Die Sturmkapelle von Darso steht leicht erhöht auf einem windumtosten Hügel nördlich des Dorfkerns, nur einen Steinwurf vom Steilufer entfernt. Ihr schlichtes, wettergegerbtes Holzgehäuse trotzt seit dem 16. Jahrhundert den Böen vom Westmeer, denen sie ihren Namen verdankt. Der Glockenturm, aus unbehauenem Kiefernholz gezimmert, neigt sich sichtbar nach Westen – nicht durch bauliche Schwäche, sondern als Folge jahrhundertelanger Windlast. Die Neigung wird jährlich neu vermessen, nicht aus Sorge, sondern aus Gewohnheit.
Der Zugang zur Kapelle erfolgt über einen sandigen Pfad, der bei Regen rasch aufweicht. Ein niedriger Bretterzaun, durchsetzt mit wacholderumwucherten Pfosten, umgibt das Gelände. Das Gebäude selbst besteht aus einem rechteckigen Schiff mit winzigen, bleigerahmten Fenstern und einem spitzgiebeligen Dach, das mit hölzernen Schindeln gedeckt ist. In feuchten Jahren bildet sich auf der Nordseite Moos, das von Kindern des Dorfes im Frühjahr abgeschabt wird – nicht aus ästhetischen Gründen, sondern um die Inschriften auf dem Gedenkstein am Eingang sichtbar zu halten. Dieser Stein erinnert an ein „großes Wasser“, das Darso im Jahr 1673 beinahe fortgerissen hätte. Der Text ist nur noch in Bruchstücken zu lesen.
Im Inneren ist die Kapelle ungekünstelt. Die Holzbänke knarren unter jedem Schritt, der Altar besteht aus einem grob behauenen Kiefernstamm, auf dem eine wettergebleichte Muschelschale als Taufbecken dient. Wände und Dachbalken tragen einfache Schnitzereien: Wellenlinien, stilisierte Seevögel, Strudel und Ankerformen. Niemand weiß mehr, wer sie angebracht hat. Manche halten sie für Gebete, andere für Erinnerungen an Schiffbrüche. Es gibt keine Heizung, kein elektrisches Licht, keine Orgel – nur das rhythmische Knacken des Holzes und das ferne Rauschen des Meeres.
Die Kapelle ist nicht ständig geöffnet. Der Schlüssel hängt an einem rostigen Haken im Haus von Margrethe Nyvik, einer ehemaligen Küstenbeobachterin, die das Amt der Schlüsselwartin nach dem Tod ihres Onkels übernommen hat. Wer ihn ausleihen möchte, muss sich mit einem Eintrag im Heft unter der Küchenlampe eintragen – inklusive Rückgabezeit. Margrethe sagt, sie habe es noch nie erlebt, dass jemand den Schlüssel vergaß.
Einmal im Jahr, zur Sommersonnenwende, wird die Kapelle zum Zentrum eines besonderen Rituals: dem Lichterfest der Küstenbewohner. Es beginnt mit einer stillen Andacht in der Kapelle, meist geleitet von einem Laien, da Darso keinen eigenen Pfarrer mehr hat. Dann ziehen die Teilnehmer zum Tropfritzsteg. Dort werden Hunderte kleiner Kerzen auf schwimmenden Holzstücken ins Wasser gesetzt und treiben langsam hinaus aufs Westmeer. Die Strömung trägt sie an der Mündung vorbei in die offene See. Die Kerzen sollen an Verstorbene erinnern – vor allem an jene, die auf See geblieben sind. Es heißt, jedes Jahr treibe mindestens eine dieser Kerzen bis nach Laguna zurück.
In den Wintermonaten wird die Kapelle kaum besucht. Nur Spuren im Schnee verraten, dass Wanderer oder Jugendliche aus dem Dorf gelegentlich den Hang hinaufsteigen. Einmal wurde beobachtet, wie jemand in der Kapelle eine alte Seekarte ablegte – eingerollt und beschwert mit einem Stein. Niemand holte sie je ab. Man ließ sie dort. So wie man alles in der Sturmkapelle belässt, was seinen Ort gefunden hat.