Der Wasserfall von Skogsdjupa gilt als einer der verborgensten und zugleich eindrucksvollsten Orte im Nationalpark Skyggeskog. Abseits aller kartierten Routen liegt er tief in einer nebelverhangenen Schlucht, die von dichtem Schwarzbirkenwald umschlossen ist. Nur wenige Menschen haben ihn je gesehen – und diejenigen, die es getan haben, berichten von einem Ort, der weit mehr als nur ein geologisches Phänomen ist: Er sei Klang, Erinnerung, Abgrund, sagen sie.

Der Wasserfall selbst stürzt über mehr als 60 Meter senkrecht in eine enge Felsspalte, deren Wände von moosüberzogenen Gesteinsplatten gebildet werden. Selbst bei Trockenheit bleibt die Luft feucht, kalt und von feinen Tröpfchen durchzogen, die sich wie ein Schleier über das Gelände legen. Der gleichnamige Bach, der Skogsdjupa, entspringt in den Hochmooren nahe Fungus, verliert sich zeitweise in porösen Kalkschichten und tritt erst kurz vor der Fallkante wieder oberirdisch zutage – ein schmaler, kaum handbreiter Wasserlauf, der plötzlich zur tosenden Kaskade wird.

Die Schlucht selbst ist kein offiziell markierter Teil des Nationalparks. Der Zugang erfolgt über einen schmalen, steilen Seitenhang des westlichen Hauptkamms des Skyggeskog. Der Pfad, falls man ihn so nennen will, ist nicht ausgeschildert und besteht überwiegend aus rutschigen Moosterrassen, Wurzelstufen und losen Steinen. Wer sich hierhin aufmacht, tut das nur in Begleitung erfahrener Wildnisführer, meist im Rahmen der mehrtägigen Expeditionen aus Darso. Eine davon führt unter dem Namen „Pfad zur Fallkante“ in vier Tagen in das Gebiet. Der Wasserfall selbst wird dabei nur bei gutem Wetter und stabilen Bedingungen angesteuert – Regen oder Nebel machen das Gelände zu gefährlich.

Vor Ort angekommen, öffnet sich der Wald abrupt zu einer schmalen Lichtung, die in die felsige Senke übergeht. Hier ist das Geräusch des Wassers zunächst nur ein Grollen unter den Füßen, bis man an den Rand tritt – vorsichtig, denn Sicherung ist notwendig – und in die Tiefe blickt. Die Gischt steigt in feinen Nebelwellen auf und bildet mit dem Sonnenlicht – wenn es denn durchdringt – irisierende Bögen, die kaum eine Minute gleich bleiben. Unterhalb des Falls staut sich das Wasser in einem schmalen Becken, das nie völlig ruhig ist. Es heißt, selbst im Winter friere es nur an den Rändern.

Rund um den Wasserfall ranken sich zahlreiche Geschichten. Die bekannteste ist die der sogenannten „Nebelgestalten von Skogsdjupa“. Bereits in den Chroniken von Antlas wird ein Ort erwähnt, an dem „die Schleier wandern und kein Ruf zurückkehrt“. Expeditionsteilnehmer berichten gelegentlich von flüchtigen Schatten am Rand des Blickfelds, vom Gefühl, beobachtet zu werden, oder von plötzlichem Verstummen aller Waldgeräusche, sobald man den Wasserfall erreicht. Führerinnen wie Merle Sova erwähnen solche Phänomene beiläufig – nicht, um zu warnen, sondern um zu respektieren, dass dieser Ort mit einer anderen Logik funktioniert.

Geologisch ist der Wasserfall von großem Interesse. Die moosbewachsenen Wände beherbergen eine Vielzahl seltener Spaltfarne, Lebermoose und Kalkflechten. Die Gesteinsschichtung deutet auf eine lange, tektonisch aktive Phase im westlichen Randbereich des Sturminselgebirges hin. Biologen vermuten, dass sich in der feuchten Umgebung des Falls eine eigenständige Kleintierpopulation entwickelt hat, darunter seltene Springschwänze und feuchteliebende Käferarten, die in anderen Teilen des Parks nicht vorkommen.

Der Wasserfall wird aus diesen Gründen nicht öffentlich kartiert. Seine Lage wird nur an qualifizierte Wildnisführer weitergegeben. Die Nationalparkverwaltung in Darso hat 2009 beschlossen, keinerlei Infrastruktur wie Geländer, Brücken oder Markierungen zuzulassen. Selbst die wenigen Besucher, die mit Genehmigung an den Fall geführt werden, dürfen dort maximal eine Stunde verweilen. Fotografieren ist erlaubt, aber nur ohne Blitz und ohne Drohnen.

Im Rückweg bleibt der Ort vielen lange im Gedächtnis. Manche berichten, das Donnern des Wassers habe sie bis nach Darso begleitet – nicht als Geräusch, sondern als inneres Echo. Andere nehmen einen Stein mit – gegen ausdrückliche Vorschrift –, lassen ihn dann aber unterwegs wieder fallen, meist still, ohne Erklärung.

Der Wasserfall von Skogsdjupa ist kein Ziel im klassischen Sinn. Er ist ein Grenzort – zwischen Wald und Stein, zwischen Sichtbarem und Ahnung. Wer ihn erreicht, kehrt verändert zurück. Nicht wegen der Höhe, nicht wegen der Gischt – sondern wegen dem, was in der Stille unter dem Donner hörbar wird.