Niederodewitz

Niederodewitz (Landkreis Mähnendorf – Bierland)

(Pop.: 287 – 28m NN)

Niederodewitz liegt tief in der flachen, südlichen Zentoebene des Bierlands im Landkreis Mähnendorf, nur 28 Meter über dem Meeresspiegel, umgeben von weitläufigen Feldern, die in regelmäßigen Bahnen von Gräben durchzogen sind. Der Ort zählt 287 Einwohner und besteht aus wenigen, locker gruppierten Höfen, Wohnhäusern und zwei kleinen Seitenstraßen, die beidseitig der Bundesstraße B41 verlaufen. Diese ist die einzige größere Verkehrsader, die den Ort durchquert – sie kommt vom Buthatal her und führt in östlicher Richtung weiter in die Hauptstadt Bierona. Der Verkehr ist meist überschaubar: morgens fahren ein paar Lieferwagen, mittags der Linienbus, am Nachmittag kehren Schulkinder aus Mähnendorf zurück, und abends sind es Traktoren oder kleine Lieferfahrzeuge, die das Ortsbild bestimmen.

Das Ortsbild von Niederodewitz wird geprägt von flach geneigten Ziegeldächern, kleinen Stallgebäuden und Scheunen, die oft noch aus der Zeit vor der Flurbereinigung stammen. Am westlichen Rand des Ortes steht die kleine Kirche St. Gerwin, ein gedrungener Rechteckbau mit schiefergedecktem Dachreiter, der eine bronzene Handglocke trägt. Die Kirche stammt vermutlich aus dem 17. Jahrhundert, wobei der genaue Bauzeitpunkt unklar ist – ein verwaschenes Türsturzrelief mit der Jahreszahl 1664 lässt zumindest Rückschlüsse zu. Der Innenraum ist schlicht, mit hell gestrichenen Bänken, einem Altaraufsatz aus Lindenholz und einem ausgemusterten Harmonium, das nur noch bei Trauungen erklingt. Die Gemeinde ist klein, aber regelmäßig aktiv – etwa beim traditionellen „Brunnengottesdienst“, der jedes Jahr im Mai an der Quelle des Strähnbachs im nahen Odwald gefeiert wird. Die Kirche wird von einer kleinen Friedhofsanlage umgeben, deren älteste Grabsteine aus bröckeligem Sandstein bestehen und von den ersten Siedlerfamilien erzählen, die im 18. Jahrhundert aus dem Westen ins Bierland kamen, um Hopfen anzubauen.

In Niederodewitz dreht sich heute vieles um Kräuter – und das nicht nur im symbolischen Sinn. Der Kräuterhof Haldenwies, etwas abseits am nördlichen Ortsrand gelegen, ist ein wichtiger Teil des Dorflebens. Der Hof wird von der Familie Tralowitz betrieben, in dritter Generation, seit der Umstellung von Ackerwirtschaft auf Kräuteranbau in den 1970er Jahren. Auf insgesamt zwölf Hektar Fläche wachsen hier Kamille, Schafgarbe, Hopfenblüten, Fenchel, Melisse und vereinzelt auch Beinwell. Die Beete sind von Gräsern gesäumt, und zwischen den Pflanzreihen verlaufen schmale Wege, die regelmäßig mit Holzasche abgestreut werden, um Schnecken und Pilzbefall zu reduzieren. Der Kräuterhof betreibt eine eigene Trockenkammer mit Lehmwänden und offener Decke, durch die warme Luft zirkuliert. In dieser Kammer hängen Büschel an Schnüren, sortiert nach Erntezeit, Feuchtegrad und Sorte. In der alten Schmiede des Hofes wurde vor Jahren eine kleine Brennerei eingerichtet, in der die Familie ihren eigenen Kräutergeist herstellt: den „Traloquint“.

Der Traloquint ist ein klares Destillat, das aus Kamille, Schafgarbe und Hopfenblüten besteht – alle aus eigenem Anbau. Die Mischung ergibt ein leicht bitteres, zugleich blumiges Aroma mit einem warmen Abgang. Die Rezeptur stammt angeblich von Hilde Tralowitz, der Großmutter des heutigen Hofleiters, die in den 1980er Jahren mit getrockneten Kräutern und Apfelschnaps zu experimentieren begann. Der heutige Traloquint wird in kleinen Mengen produziert, in dunkelgrüne Glasflaschen gefüllt und mit handschriftlich beschrifteten Etiketten versehen. Die Flaschen tragen ein schlichtes Wappen: drei Blüten, eine Sichel und ein Tropfen. Verkauft wird der Schnaps im kleinen Hofladen, zusammen mit Teemischungen, Kräutersalzen und Ölen. Auf dem Etikett jedes Produkts ist der Erntetag vermerkt. Einmal im Jahr – meist im August – findet auf dem Hof das „Destillierfest“ statt, bei dem Besucher selbst einen kleinen Sud ansetzen dürfen. Dazu gibt es Brot, Ziegenkäse und Malzbier, oft begleitet von Erzählungen aus dem Dorfleben und dem obligatorischen „Schnapstisch“, an dem ältere Bewohner Rezepte und Anekdoten austauschen.

Ein weiteres zentrales Element der Ortskultur ist der Odwald, ein kleines Waldstück etwa fünf Kilometer östlich von Niederodewitz. Der Wald ist nicht groß – nur rund 40 Hektar – aber dicht bewachsen mit Erlen, Eschen und einem Gürtel aus Pappeln, die am südlichen Rand wachsen. Der Odwald ist in den letzten Jahrzehnten von der Gemeinde erhalten und gepflegt worden, nicht zuletzt wegen seiner besonderen Bedeutung: Hier entspringen die beiden kleinen Bäche Strähnbach und Pechtal, die weiter westlich durch ihre gleichnamigen Dörfer fließen und das Landschaftsbild der Zentoebene mitprägen. Die Quellen liegen nur wenige hundert Meter voneinander entfernt, in einer sumpfigen Senke, die als „Doppelschlund“ bezeichnet wird – ein Name, den einst ein Schulkind in einer Projektwoche prägte und der seither beibehalten wurde.

Im Odwald verlaufen schmale Pfade, teils mit Holzbohlen ausgelegt, besonders dort, wo das Quellgebiet auch im Sommer nicht ganz trocken wird. Hier wachsen Moose, Schachtelhalm, Waldziest und gelegentlich wilder Baldrian. Eine kleine Schutzhütte aus Lärchenholz – errichtet 2004 von Jugendlichen aus Pechtal und Niederodewitz – steht unweit der Quellen. Auf einer Tafel am Eingang sind die Fließwege der beiden Bäche eingezeichnet, und ein geschnitztes Relief zeigt einen stilisierten Tropfen, der sich teilt. Jedes Jahr im Mai findet im Odwald eine kleine Wanderung mit anschließender Andacht an der Strähnbachquelle statt. Der Pfarrer der Gerwin-Kirche und Mitglieder des Kräuterhofs lesen dann aus alten Wetterbeobachtungen, pflanzen Schafgarbe und verteilen Kräuterkränze. Für die Kinder gibt es eine Schatzsuche mit selbstgezeichneten Karten, die in den Wochen davor in der Schulwerkstatt entstehen. Der Rückweg wird meist mit einem Traloquint für die Erwachsenen und Kräuterschorle für die Jüngeren abgeschlossen.

Niederodewitz hat keinen Laden, kein Wirtshaus und keinen Bahnhof. Der Linienbus hält dreimal täglich an der Haltestelle „Kirche“, und ein Mal pro Woche kommt ein mobiler Bäckerwagen aus Mähnendorf hierher. Die Dorfgemeinschaft ist klein, aber aktiv. Es gibt einen Gartenkreis, eine Feuerlöschgruppe und einen Verein zur Pflege von Mundarten, der sich viermal im Jahr in der Alten Schmiede trifft, um bei Hopfentee und Zwiebelkuchen Geschichten in niederzentonischer Sprechweise zu erzählen und auf Kassette aufzunehmen. Diese Aufnahmen werden dann im kleinen Archiv des Kräuterhofs verwahrt – dort steht ein Holzregal mit nummerierten Hüllen, auf denen Namen, Orte und Dialektbesonderheiten vermerkt sind. Der älteste Tonträger stammt aus dem Jahr 1993 und trägt den Titel: „Als der Bach rückwärts lief – Erzählungen vom Frühjahrsschmelzwunder“.

Der Ort ist ruhig, aber nicht vergessen. Wer in Niederodewitz wohnt, kennt die Böden, die Pflanzen, die Gewohnheiten. Der Alltag ist geprägt von Wetter, Ernte, Nachbarschaft und der B41, die langsam an der Bushaltestelle vorbeizieht. Die Landschaft ist offen, die Horizonte weit, und das Licht wechselt über den Feldern fast unmerklich zwischen klar und dunstig. Im Kräutergarten summt es, im Odwald tropft es, und auf dem alten Friedhof klimpern ab und zu lose Glasperlen auf einem Grabstein. Niederodewitz lebt langsam – aber es lebt genau.

Ch.: B41 (W: Susa 8km, O: Tolken 10km), BL1 (N: Oberodewitz, S: Strähnbach)