Der Kräuterhof Haldenwies liegt am nördlichen Ortsrand von Niederodewitz, etwas abseits der Bundesstraße B41, dort, wo der Asphalt in eine staubige Schotterzufahrt übergeht. Die Gebäudegruppe des Hofs besteht aus einem alten Wohnhaus mit Schieferdach, einer langgestreckten Trockenscheune aus Holz und Lehmziegeln, sowie der ehemaligen Schmiede, die heute als Destillierraum dient. Auf insgesamt zwölf Hektar Anbaufläche rund um das Gehöft wachsen Kamille, Schafgarbe, Hopfenblüten, Melisse, Fenchel und Beinwell – geordnet in gleichmäßige Beete, deren Ränder von Rasenstreifen und Eschenhecken eingefasst sind. Der Blick über die Felder ist offen, durchzogen von Gräben, und im Sommer liegt ein feiner Duft über dem Gelände, der zwischen süßlich und würzig wechselt, je nachdem, was gerade blüht.

Der Hof wird in dritter Generation von der Familie Tralowitz betrieben. Großmutter Hilde Tralowitz, geboren 1928, hatte nach dem Tod ihres Mannes in den 1970er Jahren begonnen, mit Kräutern zu experimentieren. Sie stellte Teemischungen und Öle her, sammelte alte Hausmittel-Rezepte und notierte sie in einem braunen Ringbuch, das heute in einer Vitrine im Hofladen liegt. Ihr Sohn Bernd überführte den Hof dann in einen professionellen Kräuterbetrieb, richtete 1989 die Trockenkammer ein und begann mit der Anlage einer systematischen Kräuterrotation, angepasst an den Boden der Zentoebene. Heute führen Bernds Kinder – Jana und Mathis – den Hof gemeinsam, mit klarer Arbeitsteilung: Jana kümmert sich um den Anbau, die Ernte und den Verkauf; Mathis leitet die Destille und betreut die Veranstaltungen.

Zentrum des Hofs ist die Destillierstube in der ehemaligen Schmiede. Hier steht ein kupferner Brennkessel mit offenem Feuerloch, von Eisenringen gehalten, daneben Holzregale mit Glasballons, Tiegeln und kleinen Metallfiltern. An den Wänden hängen Zeichnungen der Pflanzenbestandteile, und ein großes Wandthermometer zeigt die Temperaturen während des Destillationsprozesses. Aus Kamille, Schafgarbe und Hopfenblüte wird hier in kleinen Chargen der „Traloquint“ gewonnen – ein klarer, hochprozentiger Kräutergeist, der in dunkelgrüne Glasflaschen abgefüllt wird. Das Etikett trägt drei Blüten, eine Sichel und einen Tropfen – handgezeichnet und mit dem Erntedatum versehen. Jede Charge wird im Brennbuch dokumentiert: Uhrzeit, Feuchtigkeit, Zusammensetzung, Geschmack. Die Flaschen werden im hofeigenen Laden verkauft, teils auch in den Gasthöfen der Region geführt, etwa im „Halben Kessel“ in Mähnendorf, wo der Traloquint gerne nach der Gerstensuppe bestellt wird.

Die Kräuter selbst werden in der großen Trockenkammer verarbeitet – ein luftdurchlässiger Raum mit Lehmwänden, in dem Büschel kopfüber von Stangen hängen. Die Feuchtigkeit wird durch schräg stehende Fenster reguliert, und auf einer Wandtafel wird täglich notiert, welche Sorten wie lange noch trocknen müssen. Hier entstehen neben den Rohstoffen für das Destillat auch Teemischungen wie „Abendgold“ (Kamille, Lavendel, Fenchel) oder „Kesselwärmer“ (Hopfen, Malzblüte, Apfelminze), die im Hofladen verkauft oder in Leinenbeuteln auf Märkten der Region angeboten werden. Die Teebeutel werden im alten Speicher gefaltet, in dem zwei ältere Dorfbewohnerinnen – Frau Wendland und Frau Gosebrecht – einmal pro Woche mit ruhiger Hand arbeiten, immer begleitet vom Radio und einer Kanne Lindenblütentee.

Der Hof ist auch ein Lernort. Mehrmals im Jahr finden Kräuterkurse statt – vom „Grundlagenkurs Wildsammlung“ bis zur „Sommerdestille“ im Juli, bei der die Teilnehmer unter Anleitung einen eigenen Kräuterauszug herstellen dürfen. Besonders beliebt ist der Tag der offenen Destille im August. Dann wird auf dem Innenhof ein mobiler Ausschank aufgestellt, es gibt Flammkuchen mit Kräuteröl, kleine Konzerte auf der Hofbühne und eine Führung durch die Anbauflächen. Jana Tralowitz erklärt dabei die Reihenfolge der Ernte, zeigt besondere Schädlinge, und Mathis serviert an einer Theke die aktuelle Abfüllung des Traloquint mit kleinen Tontassen. Für Kinder gibt es ein Kräuterquiz und eine Bastelstation, an der sie aus getrockneten Blättern Etiketten stempeln dürfen.

Der Hof pflegt außerdem ein kleines Archiv, das im alten Hühnerstall untergebracht ist. Hier lagern Notizbücher, Rezepthefte, gepresste Pflanzen und Sprachaufzeichnungen – insbesondere Dialektgeschichten aus Niederodewitz und Umgebung. Diese Sammlung entstand in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Verein zur Mundartpflege und enthält Tonbänder, die seit den 1990er Jahren aufgenommen wurden: Geschichten über das Wetter, über Heilpflanzen, über verlorene Dinge, aber auch Berichte über das alte Wirtschaftsleben. Einige dieser Aufnahmen werden bei den Hoffesten vorgespielt – aus einem alten Kassettenrekorder, der auf einem Leinentuch steht und leise knackt, bevor die Stimme einsetzt.

Der Hofladen ist klein, aber ordentlich bestückt. Neben dem Traloquint und Teemischungen gibt es Kräuteröle, Badezusätze, Heilsalben und Kräutersalz – alles in wiederverwendbaren Gläsern, mit handgestempelten Etiketten. Der Verkauf erfolgt bar oder per Überweisung, und wer Stammkunde ist, bekommt am Jahresende ein Probefläschchen der sogenannten „Nebenernte“ – ein Destillat aus dem, was nicht ganz zur Hauptcharge passt, oft mit überraschenden Aromen. Im Verkaufsraum liegt auch ein Gästebuch aus, in dem Einträge wie „Regen, Fenchel, gute Tropfen“ oder „Meine Nase hat Kamille erkannt“ zu finden sind.

Der Kräuterhof Haldenwies ist kein Museum, keine Eventfarm, sondern ein funktionierender, landwirtschaftlich geprägter Ort, in dem Wissen, Handwerk und Gemeinschaft ineinandergreifen. Die Böden sind sandig, das Wasser hart, das Wetter unbeständig – und gerade deshalb sind hier Menschen am Werk, die mit der Umgebung arbeiten, nicht gegen sie. Wer den Hof besucht, erlebt eine Welt, in der Geruch, Geschmack und Zeit eine andere Ordnung haben. Es ist ein Ort, an dem Kräuter nicht nur wachsen, sondern sprechen.