
(Pop.: 127 – 12m NN)
Nur vier Kilometer westlich von Bierona, im Süden der fruchtbaren Zento-Ebene, liegt das kleine Dorf Stadtnähe – ein Ort, dessen Name zugleich geographisches Programm ist. Mit nur 127 Einwohnern gehört es zu den kleinsten bewohnten Orten im Landkreis Mähnendorf, doch seine Nähe zur Landeshauptstadt verleiht ihm eine unerwartete Präsenz. Das tägliche Leben spielt sich weitgehend auf dem Gelände eines einzigen, alten Vierseithofes ab, der das Zentrum des Ortes bildet. Um diesen Hof gruppieren sich Brauerei, Imbiss, ein kleines Lagerhaus, eine Bushaltestelle mit schiefer Wartebank und ein halboffener Geräteschuppen, in dem sich gelegentlich die örtlichen Kinder zum Spielen oder Schaukeln zurückziehen.

Herzstück des Ortes ist die Brauerei Bruderbräu, untergebracht in der ehemaligen Schmiede von Stadtnähe. Die alten Schmiedehämmer hängen heute dekorativ über dem Lagertank, und wo einst Eisen glühte, gären heute winterkalte Sude in offenen Bottichen. Die drei Brüder, die die Brauerei betreiben – Jost, Renke und Ludo Anders – brauen ausschließlich zwischen November und März. Ihr Bier, der „Frosthumpen“, ist unfiltriert, dunkel bernsteinfarben und weist eine kräftige Trübung auf, die nicht jedem schmeckt, aber für Liebhaber herzhafter Biere das Richtige ist. Serviert wird der „Frosthumpen“ im angeschlossenen Imbiss, wo er mit geräucherten Mettenden, Linsenkuchen oder eingelegten Rüben gereicht wird. Eine Plane über dem Innenhof schützt Gäste im Winter vor Schnee, und im Gastraum selbst hängen Fotografien aus den frühen Braujahren der Brüder – darunter eines, auf dem alle drei in Gummischürze und mit Bierhebern bewaffnet vor einem schäumenden Bottich stehen.
Berüchtigt ist die Geschichte vom beschlagnahmten Fass von Stadtnähe, die sich 1971 ereignete. Beamte der Zollstelle Bierona entdeckten bei einer unangekündigten Kontrolle, dass ein einzelnes Fass Bruderbräu auf einem Pferdewagen Richtung Süden unterwegs war – jedoch ohne Versteuerungssiegel. Das Fass wurde auf offener Straße beschlagnahmt und mit Polizeiwagen zur Zollstelle verbracht. Im Dorf wurde dies als Affront aufgefasst; noch heute hängt ein stark verblasstes Protestplakat aus jener Zeit über der Tür zum Gärraum, mit der Aufschrift: „Humpen braucht kein Siegel!“. Im Kreisarchiv Mähnendorf liegt der gesamte Schriftverkehr zum Vorfall, einschließlich eines wütenden Briefes der Brüder an das Amt für Brauereiwesen.
Neben dem Bier hat sich Stadtnähe einen Ruf als Ort des Hopfenanbaus bewahrt. Die umliegenden Felder tragen von Mitte Juni bis in den Spätsommer hinein dichte Hopfenreihen, deren sattgrüne Ranken an Drahtseilen in den Himmel wachsen. Im Spätsommer riecht das ganze Dorf nach Harz, Pflanzen und Erde. Viele Jugendliche aus Bierona kommen im August für einige Wochen als Erntehelfer ins Dorf. Während der Erntezeit wird auch am Imbiss der Brauerei das Speiseangebot angepasst – etwa durch „Hopfenküchlein“, frittierte Pfannküchlein mit einem Teig aus Mehl, geriebenem Käse, Kräutern und fein gehackten Hopfentrieben, oder „Hopfenschnitz“, ein süßer Strudel mit Hopfendolden, Apfel und Haselnüssen.
Ein Ereignis, das in Stadtnähe nur unregelmäßig stattfindet, aber große Resonanz erfährt, ist das Bovist-Fest. Die Riesenboviste – weiße, kugelrunde Pilze, die wie verloren gegangene Fußbälle auf den Wiesen wirken – wachsen nur in besonders feuchten Sommern in großer Zahl. Das bisherige Rekordjahr war 1974, als angeblich 178 Stück gezählt wurden. Die Dorfgemeinschaft veranstaltet dann ein Fest, zu dem Gäste aus ganz Bierland anreisen. Die einzige Bedingung: Jeder, der einen Stand betreiben will, muss ein Gericht mit Riesenbovist anbieten. Aus diesem Anlass sind in den vergangenen Jahrzehnten originelle Rezepte entstanden – darunter Bovist-Graupen-Gratin, gefüllter Bovist mit Roggenbeeren, „Pilzweißwurst mit Bovistkern“ oder der eher umstrittene „Bovistlikör“ mit Kandis, Kräutern und Zwiebelschale. Für Kinder gibt es kleine Basteltische, auf denen aus getrockneten Bovisten kleine Masken gefertigt werden. Das Fest klingt traditionell mit einer Bovist-Suppe für alle aus, gekocht in einem 120-Liter-Kessel unter freiem Himmel.
Der Vierseithof, auf dem das Fest meist stattfindet, beherbergt auch eine kleine Bühne für Lesungen und Vorträge. Besonders erinnert man sich in Stadtnähe an den Auftritt der Bäuerin Elsbeth Rebhahn, die 2022 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Halber Vortrag“ im Mähnendorfer Wirtshaus „Zum Halben Kessel“ über altes Saatgut sprach. Ihr Vortrag unter dem Titel „Korn, Kraut und Kram“ widmete sich der Wiederentdeckung vergessener Getreidesorten wie dem sogenannten „Kratzerroggen“, einer kurzhalmigen Roggenart, die sich besonders für leichte Böden eignet. Noch heute experimentiert sie mit Mischsaaten, und ihr Hof liegt am östlichen Dorfrand, gleich neben dem alten Ziehbrunnen, den sie eigenhändig restauriert hat. Und den Vortrag hält sie jährlich am 9. Sonntag nach Trinitatis nachmittags auf ihrem Hof noch einmal.
Stadtnähe ist kein Ort der Sehenswürdigkeiten, sondern ein Ort des Rhythmus. Der Tageslauf wird durch den Bus aus Bierona bestimmt, der morgens um 6:43 Uhr an der Haltestelle hält und abends um 17:08 Uhr zurückfährt. Die wenigen Kinder des Dorfes werden mit dem Kleinbus zur Schule nach Bierona gebracht, und im Sommer ist der Lärm der Hopfenernte das bestimmende Geräusch. Am Abend treffen sich die Dorfbewohner auf Holzbänken unter der Eiche im Innenhof des Brauereigebäudes. Dort wird diskutiert, gelacht und meist ein letzter Humpen „Frosthumpen“ getrunken, bevor der Tag endet.
Wer Stadtnähe besucht, erlebt ein Dorf, das nur aus wenigen Elementen besteht – aber aus genau den richtigen: Bier, Hopfen, Gastfreundschaft und einer Prise Eigenwilligkeit. Viel mehr braucht es manchmal nicht.
Ch.: BL2 (NW: Pechtal), BL5 (S: Stadtbad, O: Bierona West), Feldwege nach Bierona Southend und Möhra