Das Märchen vom Spiegelmädchen

Es war einmal eine Stadt, in der nachts alle Fenster verdunkelt blieben. Niemand wollte sehen, was sich in den Spiegeln tat, wenn der Mond über die Dächer kroch. Denn man munkelte, dass im Silberglas ein Mädchen lebe – schön wie der erste Gedanke der Sehnsucht, aber gefährlich wie ein Messer, das sich im Dunkeln regt.

Eines Abends kehrte ein junger Mann nach einem langen Fest heim. In seinem Zimmer stand ein alter, hoher Spiegel, dessen Glas schon Sprünge trug wie Adern aus Eis. Er wusste um die Warnungen, doch der Wein machte ihn mutig, und so löschte er die Kerze und wartete, bis der Mondschein das Zimmer füllte.

Da löste sich ein Schatten aus dem Glas. Ein Mädchen trat hervor, barfuß, das Haar wie schwarzer Rauch. Ihre Augen glitzerten, als hätte man Sterne in kaltes Wasser getaucht. Sie lächelte, und das Lächeln war Verlockung und Drohung zugleich.

„Du hast mich gerufen“, flüsterte sie. Ihre Stimme klang weich wie Samt, aber in ihr vibrierte ein Hunger.

Der junge Mann wollte sich abwenden, doch sie berührte seine Hand. Ihre Finger waren kühl, und doch brannte es unter der Haut. Er spürte, wie eine unsichtbare Schnur ihn zu ihr zog, wie sein Atem schneller ging, als ihr Körper sich an den seinen schmiegte.

Doch als er sie küssen wollte, wich sie zurück, gerade so weit, dass seine Sehnsucht unerfüllt blieb. Sie lachte leise – und in diesem Lachen lag ein Versprechen und ein Abgrund.

„Nur wer den Mut hat, mir zu folgen, wird erfahren, ob ich Liebe schenke oder Verderben.“

Mit diesen Worten trat sie rückwärts in den Spiegel zurück. Das Glas blieb schwarz, und sein Herz schlug, als habe er einen Teil von sich selbst verloren.

Von jener Nacht an verließ ihn die Sehnsucht nicht mehr. Er konnte in keiner Frau die Wärme finden, die dieses kalte, gefährliche Wesen in ihm entfacht hatte. Und so kam es, dass er Nacht für Nacht vor dem Spiegel stand, hoffend, bangend – und niemand weiß, ob er eines Abends den Schritt wagte, ihr in die andere Seite zu folgen.

Manche sagen, wer heute in dieser Stadt zu lange in einen zerbrochenen Spiegel schaut, sieht dort sein eigenes Verlangen – und das Mädchen, das es füttert.