Die Universität Seestadt wurde 1963 als Pädagogische Hochschule gegründet, anfangs mit zwei Seminarhäusern in umgebauten Bürgerpalais nahe dem Vinzenzplatz und einer kleinen Bibliothek im ehemaligen Zunfthaus der Buchbinder. Aus der Ausbildungsschule für Lehrerinnen und Lehrer wuchs in wenigen Jahrzehnten eine Volluniversität, die ihre Aufgaben früh mit den Anforderungen der Hauptstadt verband: Lehrkräfte für die expandierenden Schulen des Seelandes, Fachleute für die Wasserökologie der Teiche, Kulturarbeiter für Theater, Museen und freie Szene. 1971 erhielt die Hochschule Universitätsstatus, 1984 kam der naturwissenschaftliche Bereich hinzu, 1996 folgte die Wirtschaftsfakultät mit einer Ausrichtung auf maritime Ökonomie. Die Jahre nach 2000 brachten die Öffnung in Richtung Ingenieurwissenschaften und Informatik sowie die feste Kooperation mit Betrieben im Hafen und im Nordpark. Heute studieren rund 12.000 Menschen an der Universität, davon knapp ein Drittel in praxisintegrierten Programmen mit Werkstätten, Laboren und Partnerunternehmen.

Das Zentrum der Universität bildet der Lucianus-Campus in Seestadt-Mitte, eine Gruppe von Höfen und Arkadengängen zwischen dem Rathaushügel und dem Teichfluss. Die ältesten Gebäude sind das Collegium Vinzenzianum, ein langgestreckter Backsteinbau mit Hörsaalflügeln zum Innenhof, und die Alte Aula mit Holzdecke und einer schlichten Bühne, auf der seit 1965 die Immatrikulationsfeiern stattfinden. Entlang der Lucianusgasse liegen Institute für Geschichte, Literatur und Theaterpädagogik; in den Erdgeschossen öffnen sich Antiquariate, eine studentische Druckwerkstatt und die Mensa am Fluss, in der mittags Fischerinnen aus dem Hafen einen Tagesfang braten, während in der Ecke eine kleine Werkbank für Reparaturen von Requisiten steht. Von der Promenade am Teichfluss führt eine Brücke hinüber zum Bibliotheksring, einem Ensemble aus Magazintrakt, Lesesaal mit hochgezogenen Fensterbändern und dem offenen „Kartenkabinett“, wo Seekarten und historische Pläne auf Schienen hängend konsultiert werden können. An Sommerabenden schiebt der Bibliotheksdienst die Glaswände auf, und Studierende sitzen mit Atlanten auf den Stufen, die zum Wasser hinunterführen.

Der naturwissenschaftliche Campus liegt im Osten, wenige Gehminuten vom Botanischen Garten entfernt. Dort gruppieren sich Laborhäuser um das Haus der Naturkunde; ein gläserner Gang verbindet die Abteilung für Ökologie mit dem Gebäude für Mess- und Sensortechnik. Das Institut für Teich- und Seenforschung unterhält am Nordufer des Großen Teichs ein Freilandlabor mit schwimmenden Plattformen, eingelassenen Messpfählen und einer unscheinbaren Holzbaracke, in der Proben etikettiert und über Nacht gekühlt werden. Ein Steg trägt die Markierung „Station A4“, in Anspielung auf die alte Wassertrasse, und ist der Treffpunkt für die morgendlichen Ausfahrten der Arbeitsboote „SEE10“ und „SEE11“. Im Hafen verfügt die Universität über die Werkhalle Kranblick 3, ein gemeinsames Technikum mit Schröder Marine Systems: Dort stehen ein Vollmotorenprüfstand, ein Mock-up eines Containerkrans und eine Reihe von Lehrstationen für Hydraulik, Schweißrobotik und Sensornetzwerke. Gleich nebenan, im Schifffahrts- und Fischereimuseum, nutzt die Archäologie regelmäßig den Trockenboden für Fundrestaurierungen aus dem Teichbett.

Zum Campus gehört auch das Theaterquartier um das Studio „Cenobium Labor“ am Rand des Naturtheaters. Probebühnen, eine Kostüm-Werkstatt mit Färberei und ein Requisitenlager in einer ehemaligen Straßenbahnhalle ermöglichen Semesterproduktionen mit kurzen Wegen zur schwimmenden Sommerbühne. Wer spät abends durch die Lucianusgasse geht, hört oft Stimmenübungen aus geöffneten Fenstern, während im Hof darunter Holzleisten für Bühnenbilder gesägt werden. Im Norden, an der Zentochaussee, steht das Haus der Gewerke – die Universität betreibt darin offene Werkstätten für Holz, Keramik und Metall, betreut von Meisterinnen aus der Nachbarschaft und genutzt von Studierenden der Gestaltung, der Technik und der Theaterpädagogik.
Die Universität gliedert sich in acht Fakultäten mit klar umrissenen Studienrichtungen.
- Die Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften beheimatet Geschichte, Literaturwissenschaft, Sprachpraxis Seeländisch, Kulturjournalismus und die Editionswissenschaft des Seeländischen Codexfragments; ein kleines Zentrum für Liedforschung sammelt Fischerballaden und Werkgesänge.
- Die Fakultät Theaterpädagogik und Darstellende Künste bietet Theaterpädagogik, Schauspiel, Sprechkunst, Bühnenbild/Technik und Musikvermittlung an, mit Pflichtpraktika in Schulen, freien Bühnen und im Großen Seestädter Theater.
- Die Fakultät für Natur- und Umweltwissenschaften bündelt Ökologie, Limnologie, Geoinformatik, Chemie des Wassers und Klimafolgenforschung; hinzu kommen die Studiengänge Nachhaltige Fischereisysteme und Aquakulturen, deren Praxisanteile am Freilandlabor stattfinden.
- Die Fakultät für Maritime Ökonomie umfasst Logistik und Hafenmanagement, Schifffahrtsbetriebslehre, Versicherungs- und Schadensregulierung, Zoll- und Außenhandelsrecht sowie Datenanalyse für Lieferketten.
- Die Fakultät Ingenieurwissenschaften und Schiffstechnik bietet Schiffsentwurf, Antriebssysteme, Offshore-Strukturen für Binnengewässer, Mechatronik und Robotik für Hafenautomation; zu jedem Modul gehört ein Werkstattblock in Kranblick 3.
- Die Fakultät Informatik und Medien deckt Informatik, Künstliche Intelligenz, Interaktive Medien und Games-Engineering ab; das Games-Lab kooperiert mit Studios im Nordpark und entwickelt Simulationen für Hafenszenarien und Gewässermodelle.
- Die Fakultät Bildungswissenschaften führt die Tradition der Gründungsjahre fort mit Lehramt an Grund- und Sekundarschulen, Inklusionspädagogik und Schulentwicklung, zudem dem berufsbegleitenden Zertifikat „Theater in der Schule“.
- Die kleinste Einheit ist die Fakultät Gesellschaft und Raum mit Soziologie des Wasserrandes, Stadtplanung für Uferzonen und Verkehrsplanung, die gemeinsam mit dem Provinzhaus Studien zu Promenaden, Marktlogistik und Radwegen an den Teichen erarbeitet.
Einzelne Gebäude haben sich eigene Geschichten geschaffen. Das Haus „Kleine Schleuse“ am Teichfluss war früher die Wohnung des Schleusenwärters; heute sitzen dort die Redaktionen der studentischen Medien: der wöchentlichen Zeitung „Flussbogen“, des Campusradios „SEE15“ und eines Dokumentarfilm-Ateliers, dessen Schnittplätze nachts oft noch leuchten. Der Hörsaal H1 im Collegium Vinzenzianum ist bekannt für die knarrende Holzstufe am Pult, und jede neue Dozentin stolpert in der ersten Woche mindestens einmal – eine kleine heitere Prüfung, die in den Anekdoten der Fachschaften fortlebt. Die Mensa Ost hat an der Außenwand eine Skala mit Teichpegelständen der letzten fünf Jahrzehnte; wer sich hier verabredet, sagt nicht „12 Uhr“, sondern „unter der 94-Marke“. Im Keller des Bibliotheksrings stehen mobile Regale für die Sammlung „Hafenrecht 1840–1970“, deren metallene Kurbeln von Studierenden der Mechatronik zerlegt und gefettet wurden; ein Schild bittet darum, die Nachbauten der Kurbeln aus dem 3D-Drucker nicht als Flaschenöffner zu verwenden.
In die Stadt ist die Universität über viele kleine Wege eingebunden. Seminare der Umweltwissenschaften beginnen an der Messplattform, ziehen durch den Botanischen Garten und enden mit Auswertungen im Geoinformatiklabor. Die Wirtschaftsstudierenden protokollieren morgens um sechs Uhr die Auktion in der Fischhalle und rechnen am Nachmittag Modelle zu Preisbildung und Rückverfolgbarkeit. Im Theaterquartier richtet die Bühnenbildklasse Kulissen auf Pontons ein, die abends von Ruderern zur Probe an die schwimmende Bühne gezogen werden. Der Studiengang Nachhaltige Fischereisysteme pflegt im Südpark eine Versuchsteichreihe, die Schulklassen öffnet; dort stehen kleine Holztafeln mit den Namen von Patengruppen aus der Nachbarschaft.
Feiertage und Feste stiften Rhythmus.
- Die Imma am Fluss markiert jedes Wintersemester den Anfang: Erstsemester ziehen in Gruppen vom Vinzenzplatz über die Brücke zur Alten Aula, jede Gruppe trägt ein Banner aus Leinen, das in der Werkstatt im Haus der Gewerke bedruckt wurde.
- Im Juni richtet die Universität gemeinsam mit Fachschaften das Festival „Teichklänge“ aus; tagsüber Podien zu Wasser, Klima und Kulturarbeit, abends Konzerte, Impro-Theater und Filmnächte, die Leinwände hängen zwischen Kastanien am Ufer.
- Die Forschernacht „Lange Leitung“ öffnet Labore bis Mitternacht; auf dem Hof von Kranblick 3 demonstriert eine Studierendengruppe einen Kran-Simulator, während im Nebenraum Kinder aus dem Süden Mini-Brücken messen.
- Zur „Nacht der Glocke“ steuert das Institut für Akustik ein Experiment bei: Mikrofone im Freilandlabor zeichnen Teichgeräusche auf, die im Rathaushof live gemischt werden – eine nüchterne Klangstudie, die die Legende nicht bestätigt und doch jedes Jahr viele Zuhörerinnen anzieht.
- Im Advent veranstaltet die Theaterpädagogik das „Stufen-Stück“: kurze Szenen auf Treppen in der Mitte, in denen Alltag und Stadtgeschichte ineinandergreifen; die letzte Szene endet an der Bibliotheksstufe, die knarrt.
Die Universität Seestadt arbeitet im Alltäglichen daran, Lehre, Forschung und die Stadt ineinander zu verzahnen. Wer morgens auf dem Lucianus-Campus ankommt, kreuzt Aktenboten fürs Provinzhaus, Handwerker mit Werkzeugkisten fürs Theaterquartier, Studierende mit Watstiefeln auf dem Weg zur Messplattform und Ingenieurinnen mit Laptops, die im Hafen einen Sensor an den Kran hängen. In dieser Nähe liegen ihre Besonderheiten: kurze Wege zwischen Hörsaal und Werkhalle, zwischen Archiv und Bühne, zwischen Freilandlabor und Mensa. Aus dem Gründungsauftrag einer Pädagogischen Hochschule ist eine Universität entstanden, die die Strömungen der Stadt aufnimmt und in Studiengänge, Projekte und Feste übersetzt – ohne Brimborium, aber mit deutlicher Handschrift der Teiche.