Johannes Kandler ist achtundvierzig, in Vintau geboren, nie wirklich weggezogen. Er lernte Schreiner, bevor er als Quereinsteiger an die Schule in Nassfeld ging, wo er heute Werken und Geschichte unterrichtet. Sein Tag hat feste Bahnen: der Zug am frühen Morgen entlang des Skarefoss, Stundenplan, Werkraum, Kreide an den Fingern, Holzstaub in den Falten der Jacke. In St. Magnus, der Kirche in Vintau, übernimmt er Organisationskram, Stühle rücken, Listen führen, gelegentlich den Bibelkreis leiten. Er redet langsam, hört schneller zu, ist keiner, der in der Kantine Geschichten in die Länge zieht. Zu Hause teilen er und seine Frau Anna Arbeit und Ruhe, und seit die Tochter Lea mit ihren zweiundzwanzig fast noch einmal neu anfängt, hält er sich oft im Hintergrund. Dass er nun neun Tage allein ans Meer fährt, ist beides: Rückzug und Vorgriff. Ein Urlaub, der nicht weglaufen will, sondern Platz schaffen.
Der Koffer steht seit zwei Tagen offen auf der Sitzbank im Flur, daneben die ausgeräumte Jackentasche mit Kleingeld, Bahncoupons, einer verknickten Quittung aus dem „Zum Schaufelrad“. Johannes hat die Verbindung dreimal geprüft, als müsse die Strecke über Grenzburg und Zentro mit jedem Blick verlässlicher werden. Morgen, 22. September, StLB84 ab Vintau 11:06, an Grenzburg 11:24. SeeLB89 weiter 11:48 bis 12:48 nach Zentro Hauptbahnhof, dann mit dem Express auf der Zentrobahn 12:59 bis 13:25 nach Bierona, dort BZF107 13:40 bis Bierona Strand 13:59. Danach die kleine Fähre über die Bucht, neun Kilometer Wasser hinüber nach Sonnenblick, die Maschine mit dem gedämpften Brummen, das auf Fotos nie zu hören ist. Er überlegt, ob er im Zug schon lesen soll oder den Blick aus dem Fenster braucht, um den Abschied zu ordnen. Vielleicht beides, in Abschnitten: fünf Seiten, dann die Hänge des Sturmgebirges vorbeiziehen lassen, die Weiden des Skarebog, einzelne Viehherden wie aufgelegte Stecknadeln im Gelände.

Noch heute Abend will er die Bücher endgültig auswählen. Sie liegen bereits versetzt auf dem Küchentisch, als hätten sie selbst entschieden, wer oben und wer unten liegt. „Die zweite Schwelle“, philosophische Fiktion von Hans Dietrich Fahl, seit dem Frühjahr 2023 offen, ein Lesezeichen an einer Stelle, an der jemand eine Tür schließt und etwas nicht mehr rückgängig zu machen ist. „Gletscherlicht“ von Nora Jansen, Reportagen aus Tälern, die nicht im Reisekatalog stehen, mit Gesprächsfetzen von Wirten, Liftwärtern, Pfarrern. „Der letzte Hufschmied“ von Albrecht Hönig, eine Erzählung über Hände, die härter werden, während eine Fabrik im Nachbardorf wächst. „Psalm im Staub“, Gedichte von Samuel Kröger, in denen Straßenbahnen, Kiesgruben und Kirchenbänke vorkommen, ohne dass sich je etwas feierlich gebärdet. „Feldpost 1915“, von Livia Merck ediert, Briefe ohne Heldentum, private Logistik zwischen Brot, Matsch, Warten. Er denkt: Diese fünf haben schon so lange Anspruch angemeldet, die darf jetzt niemand mehr verdrängen.
Zwischen den Buchstapeln liegt der Bibelkommentar, „Samuel und die Könige Israels“ von Martin Herber, die Ecken leicht rund, der Rücken fest. Johannes markiert mit Bleistift, kein Filzstift, nichts, was durchdrückt. Geplant ist 2. Samuel 2 bis 6, für den Bibelkreis nach seiner Rückkehr. Daṿid in Ḥevron, Avner Ben-Ner und Joʾav Ben-Tserujah, das Spiel, das auf einmal blutig wird, Mikhals Blick am Fenster, der Gottesschrein auf einem Wagen, der falsche Handgriff eines Mannes, der nur stützen will. Es sind Kapitel, die auf Wegen stattfinden, zwischen Städten, auf Feldern, auf einer Straße, die zur Stadt Daṿids hinaufzieht. Das passt, denkt er, zu einem Urlaub, in dem Gehen ein Schwerpunkt ist. Er will jeden Tag am Strand entlanggehen, nach Osten in Richtung Strandwieck, nach Norden an der Kante des Küstenwaldes; wo der Sand weicher wird, kann man nicht denken wie am Tisch, aber anders, mit dem Schritt und der Wiederholung. Er ahnt, dass manche Verse nicht in Zimmerluft, sondern im Wind verstanden werden, wenn Worte im Kopf nach hinten wandern wie ein Fährenrauchfaden.
Auf einem Notizzettel hat er mit Kugelschreiber die Reihenfolge der Filme sich notiert, die er als DVD im Gepäck liegen hat, gegen das ewige Grübeln am Abend: „Der ferne Garten“ zuerst, dann „Die Brücke von Elstrand“, danach „Im Schatten der Wellen“, „Transit Hotel“, „Lichter im Sand“. Dazwischen die Serie „Nordhafen“, wenigstens die ersten drei Folgen. Er weiß, dass das Apartment in Sonnenblick einen Flachbildfernseher hat; ob ein Player vorhanden ist, wird sich zeigen. Kein Drama, sagt er sich, aber ein Vorsatz: Wenn der Bildschirm nur Spiegel ist, bleibt eben das Lesen an der Reihe. Vorsätze sind so lange tragfähig, wie sie nicht nur aus Verboten bestehen. Er hat auch Platz gelassen für die Möglichkeit, dass er abends irgendwo sitzt, wo andere Stimmen sind und Räucherduft und Gespräche, die nicht nach einem dritten Satz fragen, wie es ihm geht.
Sonnenblick kennt er nicht aus eigener Erfahrung, nur aus Erzählungen und zwei Fotos, die jemand aus der Gemeinde mitgebracht hat: die Räucherei mit der wettergegerbten Veranda, die Schankwirtschaft „Sonnendeck“ der Familie Törne, ein Innenhof mit gestampftem Muschelkalk; die Bar „Zur Planke“ am Anleger, einfache Holzkonstruktion, auf der Theke ein Streifen Salz, als hätte das Meer selbst die Kanten gezogen. Das Dorf hat keinen Supermarkt, aber „Korb & Korn“, vormittags offen. Er legt einen Block ein, um die Ladenzeiten zu notieren, und steckt sich die Idee zu: ein Brot am ersten Morgen, Käse später, vielleicht das hellere Bier aus Waldbeerenbach, wenn es das gibt, die kleineren Keg-Fässer kommen per Fahrrad, hatte der Bekannte erzählt. Vieles wird sich vor Ort sortieren, genauso, wie er in Vintau nie alle Wege geplant hat, als die Felskanzel noch ein Ziel mit offenem Hinweg war.
Vor dem Schlafengehen wird er vermutlich noch einmal an der Kirche St. Magnus vorbeigehen. Ein kurzer Innenblick, weiße Wände, dunkle Balken, Nussbaum am Altar, und er wird die Bänke zählen, aus Gewohnheit, obwohl er die Zahl längst weiß. Vielleicht setzt er sich hinten hin und liest eine Seite aus 2. Samuel 2: es ist eine schiefe Stelle in der Geschichte, eine Zwischenregierung, Männer treffen sich am Teich von Givʿon, einer sagt „Lasst junge Männer aufstehen und spielen“, und das Spiel wird Kampf. Johannes denkt dabei nicht an große Worte wie Schuld und Schicksal; er denkt an Bewegungen, an die Art, wie Entscheidungen im Gehen fallen. Er notiert: „Frage für den Kreis: Wo kippt etwas von Spiel zu Ernst? Woran merkt man’s vorher?“
Am Morgen reist er nicht früh, und das ist Absicht. Kein Gedränge im Dämmerlicht, kein Hastfrühstück. Er wird die Kanne Kaffee aufsetzen, den Becher auf der Fensterbank abstellen, den Skarefoss hören, der unten am Mühlknie die Kurve schlägt. Die Mühle steht still, seit Wochen kein höherer Wasserstand. Auf dem Weg zum Bahnhof geht es an der Schmiede vorbei, vielleicht ist die Tür offen und der Hammer klingt gegen neun Uhr wie ein Metronom. In Grenzburg wird er nach dem Anschluss schauen, in Zentro den Bahnsteig wechseln, in Bierona-Strand sind es dann nur noch Minuten bis zum Strand. Dort, am Steg, wartet er auf die Fähre, und wenn die Übergangleiter knarzt, wird er den Koffer heben, als sei er leichter geworden.
Er stellt sich die ersten Stunden in Sonnenblick unspektakulär vor. Schlüssel abholen, Tür aufschließen, Fenster testen. Kein Ritus, eher ein Probelauf. Dann zur Bucht hinunter, einmal bis zur Kante des Wassers, Schuhe in der Hand, nicht um nasse Füße zu beweisen, sondern um zu prüfen, welches Geräusch der Sand macht. Im „Sonnendeck“ vielleicht eine Schale Suppe, wenn die Küche mittags etwas Einfaches ausgibt, Räucherfisch erst später. Am Abend, wenn die Fähre ein letztes Mal übersetzt, will er die Drehlichter auf dem Wasser sehen und aus der Ferne das laute Reden an der Planke hören, ohne schon Teil davon zu werden. Dazwischen: das erste Kapitel wieder aufnehmen, im Kommentar die Anmerkung zu ʿUzza Ben-Avinadav lesen, der den Gottesschrein berührt. Es ist ein Text, der einen gegen sich selbst wendet: gute Absicht, falscher Griff. Johannes denkt: Manchmal ist es nicht das Motiv, sondern der Ort der Hand, der zählt.
Dass die Tochter Raum braucht, steht nicht auf einer Fahne. Es ist eine Hintergrundnotiz in seiner Tasche. Er hat nichts vor, was man „Konzepte“ nennt; er will die Tage ordentlich füllen, damit sie nicht auseinanderfallen. Wandern, lesen, studieren, Filme schauen. Es klingt nach Programm, ist aber eher ein Vorrat, aus dem er schöpft. Er ahnt, dass Sonnenblick nicht voller Ereignisse sein wird. Gut so. Er wird morgens losgehen, wenn die Luft noch kühl ist, vielleicht mit einer Scheibe Brot aus „Korb & Korn“, nachmittags einen Textabschnitt weiternehmen, abends einen Film. Wenn die Serie gut ist, je eine Folge, nicht mehr. Im Urlaub den Takt nicht verlieren, den er sucht.

Auf dem Küchentisch liegt ein kleines Messer neben dem Stück Vintauer Bergkäse, das er mitnehmen will. Eine unnötige Sentimentalität, könnte man sagen, aber es ist eher ein nützliches Gepäckstück: Brot und Käse sind unterwegs verlässlich, und der Geruch im Abteil bleibt erträglich, wenn man mit Bedacht schneidet. Johannes lächelt bei dem Gedanken, wie er in Zentro auf einer Metallbank sitzt und eine zu dicke Scheibe abbeißt, während es nach Metall, Öl und Menschen riecht. Erdiger Käse, süßer Tee aus der Thermoskanne, dazu der Geräuschteppich eines Bahnhofs, in dem sich alles regelt, ohne dass jemand etwas Großes ausruft.
Bevor er das Licht löscht, geht er noch einmal die Liste durch. Buch fünf? Ja. Kommentar? Ja. DVDs? Ja. Regenjacke, Mütze, die gute Taschenlampe, weil Küstenwaldpfade nicht beleuchtet sind. Ein Stift mehr als nötig. Er nimmt den Koffergriff in die Hand, hebt, senkt ihn wieder und spürt, wie das Gewicht dieser neun Tage kleiner wirkt als am Vormittag. Die Reise ist gebucht; sie beginnt nicht heute, aber sie hat schon begonnen, in den Handgriffen, in der Ordnung der Tasche, im Satz auf dem Notizzettel: „Sonnenblick: Strand – Bücher – 2Sam 2–6 – Filme.“ Alles andere wird sich im Gehen zeigen. Und wenn er am ersten Abend in Sonnenblick das Fenster kippt, wird die Luft anders riechen, salziger, widerstandslos. Nicht als Versprechen, sondern als Zustand, der erst einmal reicht.