Die Dornenbraut

Es war einmal ein Wald, der kein Ende kannte. Die Menschen aus den umliegenden Dörfern wagten sich nicht hinein, denn man sagte, er verschlinge jene, die nach Lust, Macht oder Vergessen dürsteten. Dort, wo der Nebel nie wich und die Bäume sich ineinander verschränkten wie die Glieder eines endlosen Leibes, stand ein Schloss, das nur in Nächten ohne Mond erschien. Seine Türme ragten wie gebrochene Speere in den Himmel, und die Mauern waren von Rosenranken überzogen, die blutrote Blüten trugen, auch mitten im Winter.

Die Alten nannten es das Schloss der Dornenbraut. Niemand wusste, wer sie war, doch die Legende sprach von einer Frau, die so schön war, dass die Sterne ihr einst den Weg erhellt hatten. Sie habe einem dunklen Fürsten die Treue verweigert und sei dafür verflucht worden, bis in alle Ewigkeit an jenem Ort zu weilen, halb Mensch, halb Pflanze, dem Blut wie der Liebe gleichermaßen ausgeliefert.

An einem Herbstabend, als die Nebel besonders schwer über den Feldern lagen, betrat ein Wanderer den Wald. Er war ein junger Mann, heimatlos, getrieben von einer Sehnsucht, die er selbst nicht zu benennen wusste. Die Jahre in der Welt hatten ihn erschöpft: überall Regeln, Mauern, gierige Blicke, die ihn einengten. Er wünschte sich nur ein einziges Mal, frei und ganz zu sein – sei es auch in Gefahr.

Er folgte dem Pfad, der keiner war, und je weiter er ging, desto dichter legte sich der Nebel um seine Brust. Schließlich stand er vor dem Schloss. Die Tore öffneten sich von selbst, als hätten sie auf ihn gewartet.

Und da trat sie hervor: die Dornenbraut.

Sie war von unirdischer Schönheit. Ihr Haar fiel in schweren Wellen über ihre Schultern, schwarz wie die Nacht, in der er stand. Ihr Kleid war aus lebenden Ranken gewoben, die sich um ihre Glieder legten, als hielten sie sie gefangen und liebkosten sie zugleich. Aus kleinen Schnitten an ihrer Haut perlte Blut, das langsam in die Dornen tropfte. Ihre Augen funkelten wie dunkler Bernstein, und ihr Blick durchbohrte ihn, als habe er nie zuvor gelebt.

„Du bist gekommen“, flüsterte sie mit einer Stimme, die süßer war als jedes Lied und bitterer als jede Wahrheit.

Er wagte kaum zu sprechen. Doch sie nahm seine Hand, und die Dornen schnitten in sein Fleisch. Schmerz und Lust mischten sich, und er ließ sich von ihr führen, tiefer hinein in die Hallen des Schlosses.

Die Spiegel an den Wänden erwachten, sobald er an ihnen vorbeiging. Sie zeigten ihm nicht sein jetziges Bild, sondern Szenen, die er nie jemandem gestanden hätte: geheime Begierden, verbotene Wünsche, Fantasien, die er verdrängt hatte, um ein ehrbares Leben zu führen. In den Spiegeln sah er sich selbst, nackt und begehrend, gebunden und frei zugleich. Er schauderte – und konnte doch nicht wegsehen.

„Das ist deine Wahrheit“, flüsterte die Dornenbraut an seinem Ohr, und ihr Atem roch nach Rosen und Eisen. „Willst du sie annehmen?“

Bevor er antworten konnte, erhob sich eine Stimme aus den Schatten. Sie kam nicht von einem Menschen, sondern von den Wänden selbst, tief und kalt wie das Grab:

„Nur wer seine Seele lässt, darf sie besitzen.“

Der Wanderer fuhr zusammen. In einem der Spiegel sah er die Gestalt eines Mannes – groß, gehüllt in Dunkel, die Augen glimmten wie Kohlen. Der Schattenherr.

„Nimm, was du begehrst“, sprach er, „aber wisse: Du wirst nicht derselbe sein. Die Dornenbraut gehört nur dem, der den Preis zahlt.“

Der Wanderer zögerte. Doch die Hand der Dornenbraut lag auf seiner Brust, und ihr Blick flehte ihn an. Sehnsucht und Furcht rangen in ihm, bis er sich hörte sagen: „Ja.“

In jener Nacht vereinten sie sich.

Die Dornenranken legten sich um seinen Körper, schnitten in seine Haut, während sie ihn mit zitternden Lippen küsste. Jeder Schmerz brannte wie Feuer, und jeder Kuss löschte ihn zugleich. Er fühlte sich, als zerreiße es ihn, als löse er sich auf und werde wiedergeboren in einem Meer aus Lust und Blut. Sie flüsterte ihm zu, dass nur seine Liebe sie befreien könne, dass nur er den Fluch brechen könne. Doch die Ranken banden sie beide immer enger, bis er nicht mehr wusste, wo er aufhörte und sie begann.

Als die Dämmerung graute, erwachte er neben ihr. Ihr Körper lag schwer und erschöpft an seiner Seite, die Rosenblüten in ihrem Haar welk und dunkelrot getränkt. Doch etwas stimmte nicht.

Er erhob sich und blickte in einen Spiegel.

Dort sah er sich selbst – nicht als Mann, der noch atmete, sondern als Schatten, der hinter dem Glas gefangen war. Sein Körper lag zwar neben der Dornenbraut, warm und lebendig, doch seine wahre Gestalt war in den Spiegeln zurückgeblieben.

Der Schattenherr trat aus der Dunkelheit des Glases hervor und legte eine Hand auf seine Schulter. „Nun bist du mein.“

Der Wanderer schrie, doch kein Laut drang aus seinem Mund. Nur die Dornenbraut hörte ihn, und sie begann zu weinen.

„Ich konnte dich nicht warnen“, flüsterte sie, „mein Fluch ließ es nicht zu. So wie ich einst gefangen wurde, so bist du nun auch. Wir sind beide Teile dieses Schlosses – du in den Spiegeln, ich in den Ranken. Und niemand, niemand wird uns je befreien.“

Der Wanderer streckte seine Hände nach ihr aus, doch das Glas hielt ihn zurück. Ihr Blick traf den seinen ein letztes Mal, voller Schmerz und Liebe, und dann wandte sie sich ab.

Von diesem Tag an war der Wanderer ein Schatten zwischen den Spiegeln. Manchmal sah man ihn, wenn der Nebel besonders dicht war: ein Gesicht, das mit weit aufgerissenen Augen nach draußen starrte, wie nach einer Freiheit, die nie mehr kommen würde. Die Dornenbraut blieb in ihrem Fluch, in ewiger Schönheit und ewiger Qual.

Und so wiederholte sich der Kreislauf. Immer wieder lockte das Schloss neue Wanderer an, immer wieder versprach der Schattenherr ihnen Lust und Erfüllung, und immer wieder endeten sie als Gefangene im Reich der Dornen.

Und wenn in mondlosen Nächten die Rosen im Wald blutrot erstrahlen, dann weiß man: die Dornenbraut hat wieder einen Liebenden empfangen – und verloren.