Es war einmal ein Königreich, das seit Menschengedenken vom Winter beherrscht wurde. Die Flüsse waren zu Kristall erstarrt, die Bäume trugen funkelnde Kleider aus Eis, und die Menschen erzählten sich im Flüsterton von der Königin, die das alles zu verantworten hatte. Man nannte sie die Königin aus Eis und Haut.

Ihr Schloss stand am Rande eines Sees, so glatt wie ein Spiegel, so tief, dass niemand je seinen Grund gesehen hatte. Türme aus gefrorenem Glas ragten in den Himmel, und in ihrem Innern herrschte eine Stille, die zugleich bedrohlich und verführerisch war. Kein Feuer durfte dort brennen, kein Herz durfte zu warm schlagen, denn die Königin lebte von der Kälte.
Eines Abends, als ein Sturm den Himmel zerriss, verirrte sich ein Wanderer in die Nähe des Palastes. Er war jung, kräftig, aber ausgezehrt von Hunger und Kälte. Sein Atem stand weiß vor seinem Mund, seine Finger waren taub, und doch folgte er dem Leuchten, das von den gläsernen Türmen ausging. Vielleicht, so hoffte er, fand er dort Schutz vor der gnadenlosen Nacht.
Als er die Schwelle überschritt, schlossen sich die Tore hinter ihm lautlos. Das Innere des Schlosses war ein Reich aus Frost: Wände, die wie Diamanten glitzerten, Treppen aus gefrorenem Nebel, und Hallen, in denen Eisspiegel sein Bild tausendfach zurückwarfen.
Und dort, am Ende einer Halle, stand sie.
Die Königin.
Ihre Gestalt war überirdisch schön und zugleich von einer Grausamkeit, die in den Adern frösteln ließ. Ihre Haut war bleich wie Marmor, von einem blauen Schimmer durchzogen. Ihr Haar floss wie gefrorener Silberregen über ihre Schultern. Ihre Lippen, fast farblos, schimmerten wie ein hauchdünner Streifen Eis, und ihre Augen waren so klar wie zwei gefrorene Seen.

Der Wanderer konnte weder sprechen noch fliehen. Er fühlte, wie die Kälte sie umgab, doch zugleich loderte ein Verlangen in ihm auf, das stärker war als Hunger und Frost.
„Du bist weit gekommen“, sagte sie mit einer Stimme, die wie das Knacken von Eis klang. „Keiner betritt mein Reich ohne Preis. Doch ich will dir eine Wahl lassen. Überstehst du die Nacht an meiner Seite, so sollst du leben. Verlierst du, so gehörst du mir – für immer.“
Der Wanderer nickte, unfähig zu widersprechen.
Die Königin trat näher, und als ihre Fingerspitzen seine Haut berührten, war es, als legten sich glühende Klingen aus Eis auf ihn. Er sog scharf den Atem ein, doch ein Teil seines Körpers antwortete auf diese Berührung mit einem Verlangen, das ihn erschreckte.
„Wärme“, flüsterte sie und legte ihre Hand auf seine Brust. „Deine Wärme ist das Einzige, was mich nährt.“
Sie führte ihn in ihre Gemächer, in eine Kammer, deren Wände aus kristallinem Eis bestanden, das sich in tausend Facetten spiegelte. Ein Lager aus weißen Fellen lag in der Mitte, so rein, dass er kaum wagte, es zu berühren.

Dort begann ein Spiel, so grausam wie berauschend. Ihre Küsse ließen seine Lippen gefrieren, doch hinterließen sie Spuren von glühender Sehnsucht. Ihre Hände zeichneten Muster auf seiner Haut, und dort, wo sie ihn berührte, erblühten eisige Rosen, die schmerzhaft brannten und zugleich Lust weckten.
Seine Wärme rann in sie hinein, und doch fand er die Kraft, sie ebenso zu umarmen, ihre Kälte mit seiner Glut herauszufordern. Sie stöhnte, ein Laut, der wie das Krachen eines brechenden Gletschers durch die Halle hallte.
Die Nacht dehnte sich. Sie liebten einander wie zwei Kräfte, die sich zugleich zerstören und retten wollten – Frost und Feuer, Erstarren und Erglühen. Der Wanderer schwankte zwischen Wonne und Ohnmacht. Immer wieder dachte er, er könne nicht mehr, und immer wieder entzündete sich sein Verlangen von Neuem.
Gegen Morgen, als das blasse Licht des Tages die Spiegelwände berührte, sah die Königin ihn mit einem Blick an, der wie ein Messer durchs Herz ging.

„Nun musst du wählen“, sprach sie. „Bleibe bei mir. Gib mir all deine Wärme, und du wirst mein Gefährte, für immer. Oder entreiß dich mir – und der Winter endet. Doch du wirst die Kälte meiner Umarmung nie vergessen.“
Der Wanderer zögerte. Sein Körper verlangte nach ihr, nach dieser unstillbaren Kälte, die zugleich das heißeste Feuer in ihm geweckt hatte. Aber er dachte auch an das Land draußen, an die Flüsse, die wieder fließen könnten, an die Menschen, die wieder Sonne sehen wollten.
Mit letzter Kraft riss er sich von ihr los.
Der Wanderer trat hinaus, erschöpft, doch lebendig. Und doch, in den Nächten, wenn der Wind über die Felder streicht, spürte er noch die Spuren ihrer Finger auf seiner Haut – kalt und brennend zugleich, wie eine Narbe aus Lust und Frost.
Ein Schrei durchhallte den Palast, so schneidend, dass die Wände zerbarsten. Die Königin löste sich auf, wurde zu Schnee, der durch die Hallen stob und im Morgenlicht glitzernd zu Boden sank. Der See begann zu tauen, die Sonne brach durch die Wolken, und der erste Frühling seit Jahrhunderten kehrte zurück.
Und so erzählte man noch lange in jenem Land von der Königin aus Eis und Haut – und von dem Mann, der sie in einer Nacht besiegt hatte, ohne je von ihr wirklich frei zu sein.