
(Pop.: 947 – 22m NN)
Tolken, das größte Dorf im Landkreis Mähnendorf mit 947 Einwohnern, liegt in der flachen Agrarlandschaft der südlichen Zentoebene, genau zwischen Niederodewitz und der Landeshauptstadt Bierona. Die Umgebung ist geprägt von ausgedehnten Feldern, die im Wechsel der Jahreszeiten grün, gelb oder braun gestreift sind – Gerste, Roggen und Weizen wachsen hier in langen Parzellen, unterbrochen von vereinzelten Hopfengärten und Grabenrändern, an denen sich Kornblumen und Wilde Möhre halten. Die Hauptstraße des Dorfes verläuft in einer langen, geraden Linie von West nach Ost und trägt den schlichten Namen „Dorfstraße“. Sie verbindet das alte Zentrum mit den neueren Siedlungshäusern am Ortsrand, wo sich auch das Schulgebäude befindet: ein zweigeschossiger, verputzter Bau aus den 1950er Jahren mit schlichter Fassade, Pausenhof mit Lindenbestand und einem Regenunterstand, der bei Schülern als Treffpunkt beliebt ist.
Die Grundschule von Tolken hat acht Klassen, davon zwei jahrgangsübergreifend. Geleitet wird sie von Marietta Woschke, einer Pädagogin aus Bierona, die jeden Morgen mit dem Bus anreist und deren Stimme, so berichten Schüler, „sogar durch geschlossene Türen“ dringt. Im Werkraum des Schulgebäudes wird regelmäßig gefilzt, geschnitzt und gewebt – nicht zuletzt in Zusammenarbeit mit dem Textilatelier „Nadelwerk“, einem der wenigen Betriebe im Landkreis, der sich der handwerklichen Verarbeitung von lokal angebautem Flachs widmet. Das Nadelwerk liegt am südlichen Ortsrand, in einer umgebauten Scheune mit schrägem Dach und Innenhof. Drinnen stehen drei große Handwebstühle, eine Spindelpresse und ein Trockenschrank für Garn. Geleitet wird der Betrieb von Luise Rammelt, einer Textilkünstlerin, die ihren Werdegang in der Bieronaer Akademie für Gestaltung begann, aber nach einem Sommerpraktikum in Tolken blieb. Das Nadelwerk stellt grobe Leinenstoffe her, die unter dem Namen „Tolkscher Zwirn“ in der Region verkauft werden – als Küchentücher, Trägerbeutel oder Tischläufer. Besonders gefragt ist das Hopfenmuster, ein gewebter Rapport aus stilisierten Ranken und Dolden, das in Zusammenarbeit mit der Schule entwickelt wurde und gelegentlich auch von Brauereien als Geschenktuch verwendet wird.

Die Kirche von Tolken, am westlichen Dorfrand gelegen, ist ein markanter neugotischer Backsteinbau mit schlankem Dachreiter und vier Spitzbogenfenstern auf jeder Seite des Schiffs. Sie wird lokal als „Friedhofskirche“ bezeichnet, da sie von alten Linden und dem kleinen Dorffriedhof umgeben ist. Die Kirche wurde 1853 errichtet und gilt als eines der wenigen neugotischen Gebäude im Landkreis. Im Inneren herrscht eine nüchterne, fast klösterliche Atmosphäre: unverputztes Ziegelmauerwerk, hölzerne Bankreihen, eine schlichte Kanzel. Doch die Besonderheit liegt auf der Empore: Dort befindet sich die Orgel von Mathis Escher, gebaut 1821 in Bierona und 1870 nach Tolken umgesetzt. Escher, ein Orgelbauer mit Hang zur Improvisation, verbarg in jedem seiner Werke ein kleines mechanisches Detail – im Falle der Tolkener Orgel ist es eine Pfeife, die bei bestimmten Tonkombinationen ein kurzes Kichern ausstößt. Die Organistin Franziska Ulm, die regelmäßig zu Proben aus Mähnendorf kommt, weiß das Instrument zu bändigen – außer bei Kindergottesdiensten, bei denen das Kichern stets für Heiterkeit sorgt.
Am Rand des Kirchhofs steht ein ungewöhnlicher Grabstein: Ein Hopfen in Stein gehauen, mit feinen Adern, gerundeten Dolden und spiralförmig verlaufendem Blattwerk. Die Inschrift nennt Hans Grübel, Braumeister, gestorben 1784, und das Sprichwort: „Tiefer bringt Klarheit.“ Der Legende nach soll Grübel das „tiefe Brauen“ erfunden haben – ein Verfahren, bei dem das Gärfass zur Reifung in ein vorbereitetes Erdloch abgesenkt wurde. Die konstante, kühle Temperatur und das Fehlen von Licht sorgten für besonders feine, haltbare Biere. Ob Grübel tatsächlich der Urheber war, ist unklar, doch das Verfahren wurde später von mehreren Brauereien im Kreis übernommen. Einmal im Jahr findet an seinem Todestag, dem 12. März, das „Klarbier-Anstichfest“ statt – organisiert von der örtlichen Landjugend, mit Musik, Leberbrot und natürlich unterirdisch gereiftem Bier aus der Brauerei Talstein in Pechtal.
In Tolken wird seit einigen Jahren ein Apfelbier gebraut, das auf ein altes Rezept aus der Grübel-Familie zurückgeht. Es kombiniert untergäriges Gerstenbier mit einem kalt vergorenen Auszug aus Mostäpfeln der Sorte „Roter Tolkener“, die in drei kleinen Streuobstwiesen rund um das Dorf wachsen. Das Getränk ist leicht trüb, von bernsteinfarbener Tönung und wird meist in Tonbechern serviert. Besonders im Spätsommer, zur Zeit des Leinenfests, ist das Apfelbier beliebt – entweder pur oder mit einem Schuss Hopfenblütenhonig. Die Herstellung übernimmt der Nebenerwerbsbrauer Niklas Wetzke, der die Gärung in alten Mostfässern auf seinem Hof betreibt.
Tolken hat zwei Lebensmittelläden, die unterschiedlicher kaum sein könnten. An der Ecke Dorfstraße / Hopfengasse liegt „Lebensmittel Behn“, ein flaches Eckhaus mit breitem Vordach und einer Eistruhe, die sommers wie winters befüllt ist. Inhaber ist der fast 80-jährige Heinrich Behn, der sich mit einer Mischung aus Gemurmel, Kopfnicken und gezielten Preiskorrekturen einen Ruf als „König der Zettelwirtschaft“ erworben hat. Sein Laden führt alles, was man zum Leben braucht – sofern man weiß, wonach man fragen muss. Der zweite Laden, „Frischemarkt Linde“, ist jünger, moderner und wird von drei Geschwistern betrieben, die mit Lieferdiensten und einem kleinen Imbissstand experimentieren. Donnerstags gibt es hier „Hopfenschnitzel“ – in Bier eingelegte Fleischscheiben mit Röstzwiebeln im Weckglas.
Tolken ist außerdem ein Knotenpunkt für Handwerker, die zwischen den kleineren Dörfern und der Stadt Bierona pendeln. Die meisten sind in der ehemaligen LPG-Werkstatt untergebracht, die heute als „Tolker Werkhof“ firmiert. Dort finden sich eine Tischlerei, ein Metallbauer, eine Fahrradreparatur und ein Planungsbüro für Solaranlagen. In der Mittagspause trifft man sich gern bei Martha Lode, die im hinteren Werkhof eine kleine Küche betreibt. Ihr Gersten-Risotto mit Lauch hat sich unter Monteuren und Meistern längst zum Favoriten entwickelt.
Das Dorfleben in Tolken ist eng getaktet und von regelmäßigen Ereignissen strukturiert: freitags ist Markttag – vier bis fünf Stände auf dem Platz vor dem Schulhof –, mittwochs trifft sich der Singkreis im Gemeinderaum der Kirche, und samstags ist das „Atelier offen“ im Nadelwerk. Im Sommer findet das Tolker Leinenfest statt, mit Vorführungen, Spindel-Wettlauf und einem Wettbewerb im „Bahnverziehen“ – dem alten Handwerk, Garnfäden exakt nebeneinander durch das Webschiff zu führen.

Das Blechbläserquartett Tolken ist fester Bestandteil des dörflichen Kulturlebens und tritt seit über zwanzig Jahren bei Festen, Märkten und kirchlichen Anlässen auf. Eröffnet wird jedes Konzert mit dem Stück „Hopfens Morgengruß“, einer eigens arrangierten Komposition in ruhigem 6/8-Takt, die mit gedämpften Hörnern und einer weichen Tuba beginnt. Der Titel verweist auf die frühe Hopfenpflege bei Morgentau, ein Motiv aus dem ländlichen Arbeitsalltag. Die vier Musiker – zwei Brüder, ein Lehrer und eine Landwirtin – proben wöchentlich in der ehemaligen Dorfschule. Bei regionalen Veranstaltungen, etwa dem Klarbier-Anstich oder dem Leinenfest, gehören sie zum gewohnten Klangbild.
Auch landschaftlich hat Tolken einige Besonderheiten: Östlich des Dorfes liegt ein Feuchtgebiet, das im Volksmund „die Wabbelei“ genannt wird – dort nisten Bekassinen, Feldlerchen und seit kurzem ein Fischotterpaar. Im Westen gibt es eine kleine Anhöhe mit dem Übernamen „Grübelshügel“, von dem aus man das gesamte Dorf überblicken kann – besonders im Spätsommer, wenn die Felder abgeerntet und die Hopfenranken bereits eingekürzt sind, bietet sich hier ein Bild, das an die Struktur eines Flickenteppichs erinnert.
Tolken ist kein Ort des schnellen Wandels, sondern einer, der sich im Detail entfaltet: in der Struktur seiner Gewebe, dem Klang seiner Orgel, dem Geschmack eines tieffernen Bieres. Wer sich Zeit nimmt, wird hinter den schlichten Fassaden und dem scheinbar ruhigen Rhythmus eine Vielzahl an Verbindungen entdecken – zwischen Handwerk und Landwirtschaft, zwischen Schule und Dorf, zwischen Geschichte und Gegenwart. Ein Ort, der bleibt, während sich vieles verändert.
Ch.: B41 (W: Niederodewitz 10km, O: Rechenberg 10km); BL3 (S: Pechtal, N: Langhaus)