Auf einem isolierten, flach bewachsenen Hügel zwischen Pechtal und Tolken ragt die Ruine Elstrang aus der Zentoebene – ein vergessener Ort, der selbst im Landkreis Mähnendorf nur selten auf Karten verzeichnet ist, aber in vielen Erzählungen weiterlebt. Der Weg zur Ruine führt von der alten Verbindungsstraße zwischen den beiden Dörfern ab, über einen kaum befestigten Pfad, der sich zwischen Hecken und alten Eschen hindurchwindet. Unweit eines verfallenen Jägerhauses, beginnt der letzte Anstieg: eine schmale Spur durch kniehohes Gras, an deren Ende der steinerne Sockel des quadratischen Turms sichtbar wird.
Die Ruine Elstrang besteht heute aus dem unteren Teil eines einst fünfgeschossigen Bergfrieds, dessen Mauerwerk aus grobem Feldstein und sandverfugtem Ziegel besteht. Der Grundriss ist nahezu quadratisch, etwa neun Meter pro Seite, mit meterdicken Mauern und einem noch erhaltenen Zwinger, der das Turmfundament auf drei Seiten einfasst. Das Eingangsportal liegt im ersten Stockwerk – ursprünglich nur über eine Holzleiter erreichbar, heute ersetzt durch eine eiserne Außentreppe, die 1982 von der Mähnendorfer Pfadfindergruppe „Sturmfalken“ installiert wurde. Über die Jahre ist die Anlage stark verwittert. In den oberen Geschossen wuchern Hopfenranken und junger Holunder durch die einstigen Fensterhöhlen, und auf dem Dach nistet regelmäßig ein Turmfalkenpaar.
Die Geschichte von Elstrang ist bruchstückhaft überliefert. Erste Erwähnungen finden sich in den Aufzeichnungen des Garnisonsarchivs in Bierona aus dem frühen 13. Jahrhundert, wo von einem „castellum Elestrangi“ die Rede ist – vermutlich ein befestigter Beobachtungsposten, der den Fernblick über die südliche Zentoebene sichern sollte. Eine tragende Rolle in der Überlieferung spielt die sogenannte „Bischofsgefangenschaft“, ein Ereignis, das vermutlich im 15. Jahrhundert während der Gerstenkriege stattfand. Nach mündlicher Überlieferung soll ein Bischof von Bierona, dessen Name nie eindeutig belegt ist, von Aufständischen entführt und für mehrere Wochen in der untersten Kammer des Elstrangtums gefangen gehalten worden sein. Die Aufständischen, so heißt es, wollten mit der Gefangennahme ein Ende der erhöhten Gerstensteuer erzwingen, die besonders Kleinbrauereien im Bierland belastete. Belege dafür existieren nicht in archivalischer Form, doch es gibt einen Notizeneintrag im Tolken’schen Pfarrarchiv, der 1819 eine „Nachtwache zu Ehren des alten Martyrers von Elstrang“ erwähnt – was darauf hindeutet, dass der Ort über Generationen hinweg eine symbolische Bedeutung als Ort des Widerstands erhielt.

Besonders faszinierend sind die Ritzzeichnungen im untersten Geschoss des Turms. Hier, im dämmrigen Halbrund unterhalb der alten Decke, finden sich etwa zwanzig teils überlagerte Motive: ein Fisch mit überlangem Rücken, ein Stab mit drei Knäufen, mehrere Kreuzformen und – besonders auffällig – eine Hopfenranke mit vier deutlich ausgearbeiteten Dolden. Manche Deutungen schreiben diese Gravuren dem gefangenen Bischof zu, andere sehen darin Spuren von Pilgern oder Landvermessern aus späteren Jahrhunderten. Eine These, die von einer Gruppe Heimatkundler aus Niederodewitz vertreten wird, sieht darin sogar ein System von Symbolen, das mit dem späteren Brauch des „tiefen Brauens“ in Verbindung stehen soll – jenem Verfahren, bei dem Gärfässer in Erdgruben versenkt wurden, um gleichmäßige Temperaturbedingungen zu schaffen.
Die Ruine Elstrang wird nicht bewirtschaftet, aber seit 2007 durch den Heimatverein Pechtal halbjährlich überprüft und gepflegt. Im Frühjahr werden Wildtriebe und Brombeeren entfernt, und ein Schild mit QR-Code gibt seit Kurzem Zugang zu einer kurzen Tonaufnahme, in der der ehemalige Lehrer Harald Fehn die Legende des Bischofs erzählt. Diese Aufnahme wurde auf dem Sommermalzfest 2022 erstmals öffentlich abgespielt und wird seither auch bei Schulwanderungen gern genutzt. Die Akustik im Turmraum ist erstaunlich klar – ein Effekt, der durch das dicke Mauerwerk und die symmetrische Geometrie des Raums begünstigt wird.
Besondere Aufmerksamkeit verdient der sogenannte Bischofsstein – ein flacher, plattiger Felsbrocken mit glatter Oberfläche, der neben dem Zugang zum Zwinger liegt. Viele Besucher setzen sich auf diesen Stein, um die Fernsicht über das Tal zu genießen. An klaren Tagen reicht der Blick bis zum Wasserturm von Bierona. Im Volksmund heißt es, dass man, wenn man auf dem Bischofsstein sitzt und ein Glas dunkles Bier aus Tolken trinkt, für das nächste Jahr vom „Hopfenfluch“ – also Missernten und schlechter Gärung – verschont bleibt. Diese Vorstellung stammt vermutlich aus dem 19. Jahrhundert, als einige Brauer aus Pechtal und Tolken die Ruine als Wallfahrtsziel nutzten und dort um gutes Brauwetter baten.
Geologisch ist der Hügel von Elstrang ein sogenannter „Restkegel“ – ein Überbleibsel einstiger Bodenerhebungen, das die flache Landschaft der Umgebung unterbricht. Der Standort wurde vermutlich nicht zufällig gewählt, da der Hügel von mehreren alten Pfaden durchzogen ist, die einst Bierona mit den westlichen Gerstendörfern verbanden. Im Umkreis finden sich heute noch alte Meilensteine und Pflasterreste.
Ein Besuch der Ruine ist besonders im späten Frühjahr oder frühen Herbst zu empfehlen. Im Sommer ist das Gelände stark zugewuchert, und bei Regen wird der Pfad rutschig. Es gibt keine Eintrittsregelung oder Beschilderung vor Ort – Besucher werden jedoch gebeten, keine weiteren Ritzungen anzubringen und keine Pflanzen zu entfernen. Gelegentlich finden abendliche Lesungen am Fuße der Ruine statt, bei denen regionale Autorinnen und Autoren ihre Texte über historische Orte im Bierland vortragen. Im Hintergrund ragt dann der Turmstumpf auf, durch dessen Reste der Fenster die untergehende Sonne auf die weiten Felder scheint – ein stiller, kraftvoller Ort, dessen Geschichte weit über das hinausgeht, was seine Steine erzählen.