Am 16. August 2025 verwandelte sich der Bahnhof von Wisnitz in eine Bühne, die weit zurück in die Vergangenheit führte. Ein abgestellter Speisewagen aus den 1920er Jahren, ein kunstvoll restaurierter Waggon mit polierten Holzpaneelen, Messingbeschlägen und samtbezogenen Sitzen, war Schauplatz eines ungewöhnlichen Fotoshootings. Fotografen, Modelle und Zuschauer erlebten, wie die Ästhetik der Zwischenkriegszeit mit moderner Fine Art Nude-Fotografie verschmolz.
Die Organisatoren hatten bewusst einen historischen Ansatz gewählt: Die Aufnahmen waren nicht laut oder provokativ, sondern orientierten sich an den Atelierstudien und Boudoir-Fotografien der frühen 20. Jahrhunderts. Damals war die Kamera bereits ein Werkzeug für künstlerische Darstellung des menschlichen Körpers geworden, eingebettet in dekorative Szenerien, die mehr Atmosphäre als nackte Direktheit betonten. Der Speisewagen erwies sich dafür als ideale Kulisse – eine intime, elegante Umgebung, die zugleich Bewegung und Reise symbolisierte.
Das Shooting war in verschiedene Szenen gegliedert. Zunächst entstanden Gruppenaufnahmen in sepiafarbenem Ton, die an mondäne Abendgesellschaften erinnerten. Frauen in Flapper-Mode mit langen Perlenketten und Männer in Smokings nahmen Platz an gedeckten Tischen, während ein Modell in graziler Pose subtil ins Zentrum gerückt wurde – ein Hinweis auf die Doppeldeutigkeit zwischen Gesellschaft und Intimität, die die 20er Jahre so prägte.














Später rückte die Kamera näher. Es entstanden Detailaufnahmen: Hände, die Perlenketten hielten; ein Glas Kristallwein, in dem sich das Licht einer nackten Schulter spiegelte; ein Bein in Seidenstrümpfen, beleuchtet von der warmen Glut einer Art-Déco-Lampe. Diese Bilder knüpften an die Tradition des Piktorialismus an, jener fotografischen Bewegung, die künstlerische Unschärfe, Lichtspiele und Texturen nutzte, um die Fotografie dem Gemälde anzunähern.
Besonders intensiv waren die Szenen am Zugfenster. Während der Wagen stand, ließen die Fotografen durch geschickt platzierte Beleuchtung den Eindruck entstehen, der Zug sei in Bewegung. Ein nacktes Profil im Gegenlicht, halb verdeckt von Vorhängen, wurde so zu einer Silhouette des Übergangs: zwischen Innen und Außen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Mensch und Landschaft.
Die Rezeption im Ort Wisnitz war erstaunlich positiv. Obwohl Fine Art Nude nicht überall selbstverständlich akzeptiert wird, betonten die Organisatoren den künstlerischen Charakter der Arbeit. Sie präsentierten die Modelle nicht als Objekte, sondern als Teil einer Gesamtinszenierung, die Nostalgie, Körperästhetik und Reisekultur verband. Viele ältere Dorfbewohner waren fasziniert von der Detailtreue des Speisewagens, der Erinnerungen an die Erzählungen ihrer Großeltern weckte. Jüngere Besucher wiederum erkannten in der Bildsprache einen modernen, aber respektvollen Umgang mit dem Thema Nacktheit.
Ein Höhepunkt war die „Romantische Szene“: Ein Paar, stilisiert als Reisende der 1920er Jahre, hielt bei Kerzenlicht im Speisewagen einander die Hände. Die Frau, teilweise von einem Seidentuch verhüllt, blickte durch die halb verdunkelten Fenster nach draußen, während der Mann im Hintergrund verblasste. Dieses Bild verband Intimität mit einer fast filmischen Dramaturgie – es hätte einem frühen Stummfilm entstammen können.
Die Fotografien des Tages sollen in einer Wanderausstellung unter dem Titel „Eleganz in Bewegung“ gezeigt werden, beginnend in der Schlossbrauerei Wisnitz, später auch in Kreuzberg und Bierona. Der Bahnhof Wisnitz, meist nur als funktionaler Knotenpunkt gesehen, gewann durch dieses Ereignis eine neue Rolle als Ort der Kunstvermittlung.
Am Ende blieb bei vielen das Gefühl, Zeugen eines Moments geworden zu sein, der nicht nur Vergangenheit zitiert, sondern auch Fragen nach der heutigen Reiselust, Körperkultur und Ästhetik aufwarf. Wisnitz, sonst bekannt für seinen Bach, die Brauerei und das barocke Schloss, hat damit ein weiteres Kapitel in seiner kulturellen Chronik hinzugefügt – eines, das noch lange nachhallen dürfte.