Die Kirche St. Ägidius in Klamsdorf ist nicht nur ein Gotteshaus, sondern zugleich ein Spiegel der Geschichte und des Selbstverständnisses der Stadt. Sie steht leicht erhöht an der Kirchstraße, inmitten eines kleinen Platzes, der von Backsteinhäusern und schmalen Hofeinfahrten umgeben ist. Von außen wirkt der Bau auf den ersten Blick schlicht: rote Backsteine, ein rechteckiger Grundriss, ein gedrungener Turm mit schmalen Schallfenstern und einer schiefergedeckten Spitze. Doch im Inneren entfaltet die Kirche ihren besonderen Charakter, denn hier zeigt sich ein unverputztes Mauerwerk, das die rohen Steine offenbart. In den Pfeilern sind Kragen eingelassen, die mit eingeritzten Zeichen versehen sind. Diese Muster ähneln Bootsrippen und erinnern an die frühe Zeit des Seelandes, als Handel, Wasserwege und Schiffe das Leben prägten. Manche Historiker deuten die Zeichen als Segenssymbole, andere sehen in ihnen handwerkliche Merkmale, die auf die Bauleute zurückgehen.

Besonders bemerkenswert ist die lange Holztruhe, die im Turmraum aufbewahrt wird. Sie gehörte einst der Handelsgilde von Klamsdorf und diente zur Aufbewahrung von Stempeln, Gewichten und Urkunden. Die Gilde bestimmte jahrhundertelang das Maß, nach dem auf den Märkten gewogen und gehandelt wurde. Noch heute öffnet die Gemeinde die Truhe bei besonderen Anlässen – etwa beim „Fest der Waagen“, das jedes Jahr im Herbst gefeiert wird. Kinder dürfen dann kleine Säcke auf alte Waagen legen und erleben, wie wichtig das richtige Maß in der Geschichte der Stadt war.

Die Ausstattung von St. Ägidius ist von schlichter Strenge geprägt. Die Bänke sind aus dunkler Eiche gefertigt, die Kanzel steht auf einem Podest mit seitlich eingeschnittenen Ornamenten, die an Wellen erinnern. In den Fenstern sind klare Gläser eingesetzt, nur am Altar leuchtet ein rundes Buntglasfenster, das den Heiligen Ägidius mit einem Hirsch zeigt. Dieses Motiv verweist auf die Legende, nach der der Einsiedler Ägidius von einem Hirsch mit Milch versorgt wurde. Die Darstellung ist stilisiert, fast grafisch, und unterscheidet sich deutlich von älteren, figurenreichen Kirchenfenstern anderer Orte.

Das Gemeindeleben von St. Ägidius ist lebendig. Rund 1 600 Menschen zählen zur Gemeinde, darunter viele Familien, die in der Landwirtschaft tätig sind. Sonntags füllen sich die Bänke mit Bauern, Fabrikarbeitern der Konservenwerke und Schülern des Gymnasiums. Einmal im Monat findet ein Musikgottesdienst statt, bei dem neben der Orgel auch Bläsergruppen aus der Region auftreten. Besonders eindrucksvoll ist das Zusammenspiel von Orgel und Skare-Fiedeln, die einen hellen, durchdringenden Ton in den Raum bringen.

Neben den Gottesdiensten ist die Kirche ein sozialer Treffpunkt. Im Winter organisiert die Gemeinde eine Kleider- und Lebensmittelausgabe im Kirchsaal, unterstützt von den Betrieben der Stadt. Im Sommer öffnet der Kirchhof für Gemeindefeste, bei denen Tische unter den Bäumen stehen und Gurken, Bohnen und das berühmte „Klamsdorfer Nussbrot“ serviert werden. Auch Ausstellungen zur Geschichte der Handelsgilde werden regelmäßig im Turmraum gezeigt, wo Besucher die Holztruhe und alte Waagen sehen können.

Pfarrerin Annelie Rautenberg, seit 2018 in Klamsdorf tätig, prägt die Gemeinde mit ruhiger Ausstrahlung und einem Sinn für die Verbindung von Geschichte und Gegenwart. Sie hält oft Predigten, in denen sie die alten Zeichen in den Pfeilern oder die Truhe der Gilde mit aktuellen Themen wie Gerechtigkeit, Gemeinschaft und Vertrauen verbindet. Ihre besondere Stärke liegt darin, Geschichte nicht museal wirken zu lassen, sondern als lebendige Grundlage für heutiges Handeln zu deuten.

Auch für Reisende ist St. Ägidius ein lohnendes Ziel. Wer den Markt am „Grünen Anger“ besucht, hat nur wenige Schritte zur Kirche. Führungen zeigen die Besonderheiten des Bauwerks, die eingeritzten Zeichen und die Gildetruhe. In den Gästebüchern finden sich Einträge von Besuchern aus dem ganzen Seeland, die die Verbindung von Schlichtheit und Geschichte schätzen.

St. Ägidius ist damit weit mehr als ein Sakralbau. Sie ist das Gedächtnis der Handelsstadt Klamsdorf, ein Raum, in dem das Gewicht des Maßes, die Kraft der Symbole und das gelebte Gemeindeleben ineinanderfließen. In den unverputzten Wänden spürt man die Arbeit der Bauleute, in der Truhe das Maß der Händler, und in den Stimmen der Gemeinde die Gegenwart einer Stadt, die ihre Vergangenheit in den Alltag integriert.