Das Gasthaus „Zum Schanzpfahl“ liegt am Rand des alten Grabens von Unterstrand, dort, wo der Schanzgraben in den Entwässerungskanal übergeht. Es ist eines jener Häuser, die von außen unscheinbar wirken, aber im Inneren eine eigene, geschichtete Welt tragen. Der zweigeschossige Bau mit seinem Ziegeldach steht leicht zurückgesetzt an der Schleusenstraße 3, gegenüber dem kleinen Weg, der zur Schleuse IV führt. Ein niedriger Bretterzaun umgibt den Hof, hinter dem sich ein kleiner Garten mit Kräutern, Dill, Meerrettich und Rübenbeeten ausbreitet. Das Schild über der Tür zeigt einen stilisierten Holzpfahl, halb im Wasser steckend – eine Anspielung auf die Schanzpfähle, mit denen der Ort in früheren Jahrhunderten befestigt war.

Das Gasthaus wurde 1894 von der Familie Niehaus gegründet, deren Vorfahren im Teichbau tätig waren. Der Gründer, Wilhelm Niehaus, hatte zuvor als Holzlieferant für den Ausbau der Schleuse IV gearbeitet und beschloss, ein Wirtshaus für die Arbeiter, Fischer und Schleusenwärter zu eröffnen. Das Gebäude diente zunächst als Kantine für den Wasserbau, später als Treffpunkt für Händler und Handwerker. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm sein Sohn Hermann den Betrieb, modernisierte Küche und Schankraum und machte das Haus zu einem festen Bestandteil des städtischen Lebens. Heute führt die Urenkelin Maren Niehaus das Gasthaus in vierter Generation.

Der Hauptraum liegt ebenerdig und hat niedrige Balkendecken, die schwarz glänzen vom Rauch vieler Jahrzehnte. An den Wänden hängen Werkzeuge: ein Schleusenhaken, eine Peilstange, ein altes Reusenmesser. Die Möbel sind schlicht – lange Tische mit abgewetzten Kanten, schwere Holzstühle, auf deren Rücken die Initialen alter Stammtischgäste eingeschnitzt sind. In der Ecke steht ein kleiner gusseiserner Ofen, der im Winter mit Torfziegeln geheizt wird. Das Licht kommt von zwei Fenstern, die auf den Graben blicken; wenn die Sonne tief steht, fällt ihr Widerschein auf das blanke Holz der Theke, auf der drei alte Krüge mit Zinndeckel stehen – Geschenke der Fischerzunft von 1912.

In der Küche herrscht ein eigener Rhythmus. Hier arbeitet Maren Niehaus gemeinsam mit ihrem Mann Uwe, der als Koch gelernt hat, aber das Handwerk pragmatisch versteht. Die Spezialität des Hauses ist die kräftige Fischsuppe nach Seeländer Art, deren Rezept seit Generationen kaum verändert wurde. Grundlage ist ein Sud aus Hecht- und Zanderköpfen, Lauch, Sellerie und Pfefferkörnern. Hinzu kommen Stücke von Aal, Barsch und manchmal Karpfen, dazu ein Schuss Flachssamenöl, der der Suppe ihren charakteristischen, leicht nussigen Geschmack verleiht. Serviert wird sie in schweren Steingutschalen mit einer Scheibe Roggenbrot, das vom Bäcker Wendt in der Marktgasse stammt.

Freitags steht ein zweites, einfaches Gericht auf der Karte: gedämpfte Rüben mit Flachssamenöl, dazu kleine Bratlinge aus geschrotetem Roggen und Ei. Diese Mahlzeit hat in Unterstrand Tradition; sie geht auf die Zeit nach den Teichkriegen zurück, als Fisch knapp war und die Menschen auf Gemüse und Öl ausweichen mussten. Noch heute gilt der Freitag als „Rübentag“, und wer das Gasthaus betritt, riecht schon im Flur den erdigen Duft der Wurzeln, die im großen Kessel gegart werden.

Der Schankraum hat seine eigene Geräuschkulisse: das Klirren der Gläser, das Knarren der Bodendielen, das leise Summen aus der Küche. Stammgäste sitzen meist am Tisch unter dem kleinen Wandregal, auf dem ein Modell der Schleuse IV steht – geschnitzt von einem ehemaligen Wärter. Hier treffen sich Handwerker, Lehrer, Mitarbeiter der Stadtverwaltung und die Fischer vom Kleinen Teich. Viele bringen Neuigkeiten vom Markt, vom Wasserstand oder vom Pumpenhaus mit. Gespräche drehen sich selten um Politik, häufiger um den Zustand der Schleusentore oder den Erfolg der letzten Aalnacht.

Im Nebenraum, dem sogenannten „Pfahlzimmer“, hängt an der Wand ein echter Schanzpfahl, geborgen 1956 beim Ausbau des Schanzgrabens. Er ist dunkel und unregelmäßig, an der Spitze verkohlt. Daneben eine Fotografie aus dem Jahr 1908: eine Gruppe von Männern mit Schaufeln und Hüten – die Schleusenarbeiter, die in der Mittagspause vor dem Wirtshaus sitzen. Dieses Bild ist zum inoffiziellen Wappen des Hauses geworden; es steht auch auf der Speisekarte und auf den Bierdeckeln.

Das Gasthaus „Zum Schanzpfahl“ ist nicht nur Wirtshaus, sondern auch ein kultureller Treffpunkt. Im hinteren Saal, der 1932 angebaut wurde, finden regelmäßig Lesungen, Musikabende und Vereinsversammlungen statt. Einmal im Monat spielt dort die Musikschule Unterstrand kleine Kammerkonzerte. Die Wirtin räumt dafür die langen Tische beiseite und stellt einfache Stühle in Reihen. Zwischen Schleusengeräuschen und Flachssamenölgeruch erklingen dann Klarinetten und Geigen – eine eigenartige, aber passende Mischung. Im Winter kommen die Chöre der Gemeinde zum Üben; manchmal erklingt aus dem Gasthaus noch spät am Abend ein vielstimmiges Summen über den Graben.

Besonderes Gewicht hat das Gasthaus während des jährlichen Teichfests im Sommer. Dann stellt die Familie Niehaus Bänke entlang des Grabens auf, zapft Bier aus Fässern und serviert Fischsuppe und Brot an langen Reihen. Am Abend spielt eine kleine Kapelle, und die Gäste sitzen bis weit in die Nacht am Ufer. Wenn das Fest endet, bleiben nur noch das Klingen der Gläser und das ferne Geräusch der Schleuse IV.

Das Gasthaus ist auch mit der Kirche St. Gertrud verbunden. Am Erntedanksonntag wird nach dem Gottesdienst ein Teil der Brote, die auf dem grauen Wolltuch in der Kirche geweiht wurden, hierher gebracht. Maren Niehaus legt sie in Körbe, schneidet sie in Stücke und serviert sie kostenlos mit Butter und Rübenkraut. Dieser Brauch gilt als „zweiter Teil des Dankes“, eine weltliche Verlängerung des kirchlichen Rituals. Viele Gäste sagen, das Brot schmecke hier besser als anderswo – vielleicht, weil es mit der Geschichte der Stadt gesättigt ist.

Die Einrichtung ist über Jahrzehnte kaum verändert worden. Die Fensterrahmen sind aus weichem Kiefernholz, die Scheiben leicht wellig, und über der Tür hängt eine kleine Glocke, die beim Eintreten anschlägt. In der Nische steht ein Schreibpult mit dem Gästebuch. Die ersten Einträge stammen aus den 1920er Jahren, in der Handschrift von Durchreisenden, Händlern und Soldaten. Neuere Seiten füllen Besucher aus Seestadt, Kohla oder dem Seelandwald – viele loben die Fischsuppe oder die „Rüben mit Öl“.

Im Obergeschoss liegen zwei einfache Fremdenzimmer. Sie werden selten beworben, aber gern genutzt von Wanderern oder Technikern, die an der Schleuse arbeiten. Die Betten stehen unter Dachschrägen, und das Wasserrauschen des Grabens begleitet den Schlaf. Wer morgens früh aufsteht, hört unten in der Küche das Klappern der Töpfe und das gleichmäßige Mahlen der Kaffeemühle.

In jüngerer Zeit hat das Gasthaus kleine Modernisierungen erfahren: eine neue Theke, energiesparende Lampen, eine überarbeitete Küche. Doch an der Atmosphäre hat das nichts geändert. Die Gäste kommen nicht wegen des Komforts, sondern wegen der Beständigkeit. „Zum Schanzpfahl“ ist einer jener Orte, die sich kaum verändern, weil sie schon immer genau das waren, was sie sein sollten: ein Raum zum Sitzen, Essen, Reden, Zuhören.

Abends, wenn die letzte Runde ausgeschenkt ist und die Lichter im Garten verlöschen, bleibt nur das Rauschen des Wassers im Schanzgraben. Von der Schleuse her dringt ein dumpfes Grollen, die Glocke von St. Gertrud schlägt, und für einen Moment scheint die ganze Stadt in einem ruhigen Atem zu liegen. Das Gasthaus „Zum Schanzpfahl“ ist mehr als eine Wirtschaft – es ist ein Stück Unterstrand selbst, aus Holz, Dampf und Gedächtnis gebaut. Hier wird gegessen, getrunken, erzählt – und, ohne dass es jemand bemerkt, Geschichte fortgeschrieben.